Der Mann in Jeans und Wolljacke wirkt sanft und liebenswürdig. Gelassenheit strahlt er aus, wie einer, der in sich ruht und genau weiß, was er will. Was man nicht sieht: Andreas H. Bitesnich brennt. Innerlich. Er gehört zu denen, die eine Kerze am liebsten gleichzeitig an beiden Enden anzünden. Ein Besessener auf der Jagd nach Perfektion, nach perfekter Form, perfekter Balance, perfektem Spiel zwischen Licht und Schatten.
Es ist fast so, als würde der 37-jährige Wiener ein bisschen den lieben Gott spielen. Aber einen, der sich nicht einmal am Sonntag Ruhe gönnt. Bitesnich hasst das Wochenende, »denn da hat das Labor geschlossen«. Schöpfungs-Akte dulden eben keinen Aufschub. Und darum geht es ihm: den menschlichen Körper immer wieder neu zu entdecken, neu zu erschaffen, überirdisch schön, grafisch klar und kraftvoll.
Bitesnich ist der Bildhauer unter den Fotografen, er bannt Skulpturen auf die zweidimensionale Ebene des Papiers. »Die Personen auf meinen Bildern sind so, wie ich sie sehen möchte«, sagt er, »es ist meine Projektion. Auf der Straße würde sich keiner nach ihnen umdrehen.« In der statuenhaften Schönheit spiegele sich sein Respekt. Denn für ihn sei »jeder Mensch, der Modell steht, etwas ganz Besonderes«.
Wer die Bilder betrachtet, könnte auf die Idee kommen, dass der Künstler vor allem an Waschbrettbäuchen, muskulösen Schenkeln und Armen interessiert ist. »Ganz falsch«, wehrt Bitesnich ab, »es geht mir nur um die Balance, die Proportion, die Gewichtung im Bild. Entscheidend ist, dass die Person fotografiert werden möchte. Den perfekten Körper hat sowieso niemand. Aber wer vor dir seine Kleider ablegt, der gibt ja sehr viel preis von sich. Nacktheit macht verletzlich. Und das ist vielleicht auch der Grund, warum vor allem die Leute, die stolz sind auf ihren athletischen Körper, den Mut und den Wunsch haben, von mir fotografiert zu werden.«
Eigentlich wollte Bitesnich Modefotograf werden. Aber nachdem er für den deutschen »Playboy« und andere Magazine ein paar Mal Aktfotos produziert hatte, »entwickelte sich eine Eigendynamik. So wurde ich quasi da hingetrieben.« Dass seine Bilder häufig einen homoerotischen Touch haben - kein Problem für den Österreicher. Im Gegenteil. Drei Jahre lang fotografierte er die preisgekrönte Kampagne für die Wiener Aids Hilfe, seine Männerakte erscheinen in internationalen Schwulenmagazinen, viele schwule Männer posieren für ihn.
»Ich bin immer auf der Seite der Schwächeren«, sagt Bitesnich. Doch die einzige Mission, die er transportieren will, ist eher ein Nebeneffekt seiner Arbeit. »Wenn ich dazu beitragen kann, den Umgang mit dem Körper zu liberalisieren, macht mich das froh. Ein nackter Mann ist ein nackter Mann - und der hat eben einen Penis.« Basta.
Die Bilder des Österreichers verströmen ohnehin eher eine kühle, distanzierte Erotik. Er selbst kann mit dem Begriff nichts anfangen. »Das Bild von dem Finger am Mund einer Frau gehört zu meinen Lieblingsfotos. Ist das erotisch? Für mich ist es ein skulpturelles Bild vom Körper. Aber jeder sieht, was er sehen möchte.«
Sein Studio liegt unterm Dach eines Jugendstilhauses im 7. Wiener Bezirk. Aber meist ist der Lichtmaler unterwegs. Zum Beispiel in Barcelona, Los Angeles oder Hongkong, um dort Menschen für die neue Bulthaup-Küchen-Werbekampagne abzulichten. Dann nach Madagaskar, wo er für ein Magazin Frauenkörper am Strand in Szene setzt. Im April hat er seine erste Einzelausstellung in einer Galerie in Los Angeles, im Sommer wird er als Dozent zu einem Foto-Workshop in die Toskana reisen, und im Herbst soll nach »Nudes«, »Woman« und »Travel« sein viertes Buch erscheinen. Titel: »More Nudes«. Eine Bilderbuchkarriere.
Dabei waren die Startbedingungen des Jungen aus dem Wiener Arbeitermilieu alles andere als günstig. »Meine Mutter war Schneiderin, mein Stiefvater hat sich blöd gesoffen«, erzählt er ohne große Emotionen. Wenn alles nach Schema F gelaufen wäre, könnte Herr Bitesnich heute Abteilungsleiter in einem Elektrogroßhandel sein. Gleich nach der Hauptschule beginnt der Teenager eine Lehre als Einzelhandelskaufmann, verscherbelt Waschmaschinen und Staubsauger. Er heiratet mit 22, bekommt einen Sohn, »alles ganz normal und bieder«. Aber zum Glück läuft im Leben nicht immer alles nach Plan. Als ein Bekannter, der in Mailand als Modefotoassistent gearbeitet hat, ihm seine Mappe mit Schwarz-weiß-Arbeiten zeigt, »habe ich Feuer gefangen. Da wusste ich: Das ist es.«
Am nächsten Tag kauft er sich eine Nikon F 3 und »fotografierte alles, was sich mir in den Weg stellte. Ich wusste nichts über Bildaufbau, Brennweiten, Belichtungszeiten, Vergrößern. Also habe ich es einfach ausprobiert, so lange, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden war.« Von neun bis 18 Uhr verkauft er Elektrogeräte, nachts schuftet er bis zum Umfallen für sein zweites Leben, funktioniert das heimische Badezimmer zum Fotolabor um, kauft sich von seinem schmalen Gehalt teure Fotobücher, um von den berühmten Kollegen zu lernen.
Zwei Jahre geht das so. Zwei Jahre, in denen er so gut wie gar nicht schläft. Wie er das ausgehalten hat? »Keine Ahnung«, sagt er nur. Die harten Lehrjahre wirken bis heute nach. »Ich kann nicht loslassen - und einfach mal nichts tun«, gibt er zu. »Das Leben im Hier und Jetzt etwas mehr zu genießen«, daran arbeitet er hart. Dafür hat er sich Leinwand, Farben und Pinsel angeschafft. Und eine Gitarre. Und ein Klavier.
Die Entscheidung, seine nächtliche Leidenschaft zum Beruf zu machen, fällt 1989, als er die Chance bekommt, in einem Still-Life-Studio anzufangen. Quasi über Nacht kündigt er seinen Job und sagt den Staubsaugern adieu. Ackert mit preußischer Disziplin und viel Sinn für Pragmatismus nur noch für seine Künstlerkarriere. Aufträge hat er, aber weder die Profi-Ausrüstung noch das nötige Kleingeld. Also überzeugt er einen Fotohändler davon, ihm die erste Mamiya 6 mal 7 Zentimeter samt Objektiven kostenlos zu überlassen. Bitesnich: »Ich sagte dem Mann, in drei Wochen, wenn ich den Job gemacht habe, komme ich und bezahle die Kamera.« Auf diese Weise, »immer Schritt für Schritt, ohne Kredite«, baut sich der kreative Sturkopf sein gesamtes Equipment auf.
Heute sitzt der Autodidakt ganz oben »im Fotografenhimmel«. Glück nennt er das ganz bescheiden. »Ich werde gebucht für das, was ich mache, für meinen Stil. Verbiegen muss ich mich nie.« Ihm geht es immer nur »um das bestmögliche Bild«, ganz gleich ob er Werbung, Mode, Landschaften, Gesichter oder Körper fotografiert. Egal ob Farbe oder Schwarzweiß. Für ihn ist Fotografie ein Universum - und er ein Entdecker aller Möglichkeiten. Kein Wunder, dass er Irving Penn ganz besonders verehrt, »für die Spannweite, die er beherrscht. Reportage, Still-Life, Porträt, Mode, Art. Und alles auf einem außergewöhnlichen Niveau«.
Bei Bitesnich zu Hause hängen Original-Prints von Kollegen an der Wand, »das ist mein Laster. Ich habe einiges von Greg Gorman, Newton, Riefenstahl, Jan Saudek«. Und mittlerweile ist die Sammlung der Fotobücher zur Vier-mal-drei-Meter-Wand gewachsen. »Ich liebe diese Bände, ein Buch in die Hand zu nehmen, das Papier zu fühlen, den Geruch einzuatmen. Die Lagerfeld-Bücher riechen besonders gut. Ich bewundere ihn sehr für seine Arbeit auf so vielen Gebieten."
Überraschende Vielseitigkeit steckt auch in der Familie des Wieners. Kürzlich entdeckte Andreas H. Bitesnich im Nachlass der Großmutter alte Fotoglasplatten mit weiblichen Akten. Sein Großvater Rudolf, »der Ingenieur war und eine Ausbildung als japanischer Volksschullehrer hatte«, fotografierte die hüllenlosen Damen in den 20er Jahren. »Fantastische Aufnahmen«, lautet des Profi-Urteil des Enkels. Vielleicht liegt das wahre Talent zum Fotokünstler ja doch in den Genen.
Das neue stern spezial Fotografie hat einen Umfang von 96 großformatigen Seiten und zeigt einen Querschnitt durch das Werk von Andreas H. Bitesnich, hauptsächlich Schwarzweißfotografien. Neben Akten enthält das Portfolio auch Reise- und Landschaftsbilder sowie eine Serie von Körperstudien prominenter Sportathleten, die Bitesnich im Auftrag des stern machte. Im Anhang des Heftes gibt es wie immer eine Übersicht über neue Fotobücher, Ausstellungen und aktuelle Highlights der internationalen Fotografie.