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"Werther" Bermudadreieck der Leidenschaft

Wenn das Leben so groß sein soll wie ein Liebesroman, ist es eigentlich zum Scheitern verurteilt. Jules Massenets Goethe-Adaption "Werther" lässt genau das in Musik hören.
Von Axel Brüggemann

Wenn Dichter beginnen, ihr Leben als Roman zu führen, kann das schnell in einer Tragödie enden. Goethes Werther ist so ein romantischer Schreiber, der die große Liebe in Worten markiert und letztlich doch nur in seine eigenen Verse verknallt ist. Ein ungestümer Stürmer und Dränger, der das Drama des Lebens ohne Rücksicht auf Verluste sucht.

Werther verliebt sich in die verheiratete Charlotte und schreibt ihr schwelgerische Liebesbriefe. Doch die Verehrte beschließt nach einigem Hin und Her, ihrem Mann treu zu bleiben und zieht das bürgerliche Leben dem erotischen Abenteuer vor. Werther rächt sich auf seine Weise: Er beendet das eigene Leben. Nicht ohne zu hoffen, dass Charlotte Tränen an seinem Grab vergießen wird.

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Jules Massenet hat Goethes Briefroman in eine gigantische, klingende Männerphantasie verwandelt. Eine Oper, die schwelgt, die ausbricht, in der jeder mit jedem und ganz besonders mit sich selbst ringt. Ein Kammerspiel der sinnlichen Besinnungslosigkeit. Massenets Wahl für Goethes Romanhelden verwundert so wenig wie die Tatsache, dass der Opern-Werther besser wegkommt als sein literarisches Vorbild. Massenets Werther ist so eitel wie der Komponist selbst. Nach der ersten Orchesterprobe 1892 soll der Tonsetzer gemurmelt haben: "Ist es möglich? Das ist zu schön! Habe ich das geschrieben?". In seinen Erinnerungen erzählte er dann stolz, dass eine Sängerin ihm die schlichte Antwort auf seine Frage gegeben hätte: "Ja! Göttlicher Mann!".

Massenet lässt in seiner Oper hören, dass wir es bei "Werther" mit mehr als dem Klischee der unlebbaren Liebe zu tun haben. Wir haben es auch mit der Kunst an sich zu tun, mit einem Schriftsteller, dem es nicht reicht, seine Sehnsucht auf das Papier zu bringen. Mit einem Mann, der die Liebe und das Verderben unbedingt am eigenen Körper spüren will - mit allen Konsequenzen für sich und die anderen.

Zeitlos klassische Geschichte

Wie ist es, wenn das ganz normale Leben größer gedacht wird als es ist? Wenn die eigene Liebe, das eigene Leiden, das eigene Leben zur Oper werden sollen? All das kann nicht gut gehen, besonders wenn die Handlung um ganz normale Menschen kreist, die einfach nicht für ein Leben der Extreme gemacht sind. Massenets musikalische Konstellation zwischen dem Dichter Werther, seiner verehrten Charlotte und ihrem Gatten Albert ist ein Bermudadreieck der Leidenschaften, in dem der Komponist immer wieder den ganz großen orchestralen Sturm wehen lässt.

Andre Serban zeigt in seiner Wiener Inszenierung, dass "Werther" eine zeitlos klassische Geschichte ist, die auch im Heute spielen kann. Er lässt Goethes Sturm-und-Drang-Romantiker in die Gegenwart schwappen, tauscht die legendäre gelbe Werther-Weste gegen einen romantikgelben Rollkragenpulli und lässt den Schriftsteller durch seine pathetische Leidenschaft das ländliches Idyll zerstören. Dieser "Werther" ist mehr als eine aufgedrehte Romanfigur, er könnte direkt aus Berlin Mitte zu uns kommen und aus der großstädtischen Langeweile heraus das Abenteuer der Liebe bis in den Tod verfolgen.

Werther stirbt seinen Operntod allein

Wie modern Oper sein kann, zeigt auch das Sängerensemble dieser Aufnahme: Marcelo Álvarez ist kein Tenor, der an der Rampe schöne Töne singt, sondern ein Schauspieler, der seine Rolle im Sinne des Wortes verkörpert: ein leidenschaftlicher, höhensicherer und zutiefst emotionaler Romantiker. Mit Elina Garancas Charlotte trifft er auf den Prototypen der modernen Diva. Garancas Charlotte ist ein Mädchen auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Fast naiv lässt sie sich zunächst von Werthers Liebesbriefen und -arien einlullen, um schließlich doch die Grand Dame zu geben, die den Liebhaber abweist, um endlich wieder ihr ganz normales Leben führen zu können.

Werther stirbt seinen Operntod allein. Charlotte entsagt dem Leben, das pathetischer, größer und emotionaler ist als ein Mensch es ertragen kann. Massenets Versuch, auf der Opernbühne das Leben zu übersteigern scheitert - alles was bleibt ist die traurige Schönheit der Musik.

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