Wer an diesem Abend in die Kulturkirche Altona Einlass erhalten will, muss erst mal über aluminiumbeschichtete Wärmedecken, leere Flaschen und Fanplakate steigen. Es sind die Hinterlassenschaften jener Tokio-Hotel-Fans, die schon seit dem Abend zuvor vor der Tür des Gotteshauses campierten. Was sie dort gemacht haben? "Gesoffen gegen die Kälte", sagt ein Mitarbeiter des Sicherheitspersonals.
Schmerzbefreit sind die leidenschaftlichsten Anhänger der Magdeburger Band auch heute noch, nur sind sie weniger geworden: Knapp 400 Fans tummeln sich innen vor dem Altar; ausverkauft ist das Hamburg-Konzert der "Feel It All"-Tour mit dem Zusatz "Part 1: The Club Experience" nicht. Allein ein Stehplatz kostet knapp 90 Euro. Am Merchandising-Stand kann man eine Plüschversion von Pumba, der Bulldogge von Sänger Bill Kaulitz, für 40 Euro erwerben, wahlweise auch ein Kissen für 20 Euro, auf dem man Bill mit Pumba kuscheln sieht. Wir können gerade noch widerstehen.
Mit Sprechchören wie "Wir wollen Tokio Hotel" machen sich derweil die Mädchen in den ersten Reihen warm. Sie kommen nicht nur aus Deutschland; auch Franzosen, Spanier, Belgier und Russen sind angereist. Ihre Stimmen klingen tiefer als noch vor fünf Jahren, als Tokio Hotel zum letzten Mal mit ihnen auf Tuchfühlung gingen. Dass die Exil-Kalifornier sich keinesfalls lumpen lassen, was den Aufwand ihrer Show betrifft, wird rasch deutlich, als gegen 20.30 Uhr ein langes Elektrobeat-Intro den Konzertabend eröffnet.
Lichttechnik auf Stadionniveau
Auf einen durchsichtigen Vorhang werden dazu futuristische Formen projiziert, dahinter offenbart sich eine Lichttechnik, die Stadionniveau hat. Rotierende, quadratische Scheinwerfer im Dutzend buhlen mit messerscharfen Lasern um die Wette, das Deckengewölbe der Kirche ist mit wunderschönen Farben in Szene gesetzt. Da kann man den Unmut, den Tokio Hotel noch am Morgen via Facebook gegenüber dem Berliner Szeneclub "Heimathafen" ausließen, fast ein wenig nachvollziehen: Weil sie dort ihr Bühnenlicht aus Sicherheitsgründen nicht aufstellen durften, riefen die Jungs zum Boykott des Ladens auf. Aber in Hamburg gibt es die komplette Dröhnung ohne Limitierungen!
Der Vorhang fällt, es wird laut gekreischt, junge Frauen halten ihre Handy-Kameras fest im Anschlag, und Bill Kaulitz steht da in seiner ganzen Pracht. Er trägt ein goldenes Cape mit Schultern wie ein Preisboxer sowie eine Krone über dem blonden, zurückgegelten Haar und positioniert sich optisch irgendwo zwischen Freddie Mercury, Michael Jackson und David Bowie. "We Found Us" heißt der Eröffnungssong, der vom neuen Album "Kings Of Suburbia" stammt. Wohl aus Angst, ihm könnte das Krönchen vom Haupt purzeln, sind Bills Bewegungen anfangs eher spartanisch. Dafür machen sein Zwillingsbruder Tom und Bassist Georg Moritz, die sich beide Bandanas vors Gesicht gebunden haben, wie es sonst nur Bankräuber tun, ordentlich Show an ihren Instrumenten.
Luftballons, Seifenblasen und Schilder
Später liefern sie sich auch noch ein Trommelduell auf der Bühne. Tokio Hotels eigentlicher Schlagzeuger Gustav Schäfer sitzt derweil unscheinbar hinter einem Glaskasten - macht aber auch nichts. "Es ist so schön, wieder in der alten Heimat zu sein", spricht Bill die ersten Worte des Abends und macht dabei einen sehr glücklichen Eindruck. "Ich bin mir nicht sicher, wie es soundmäßig in der Kirche klappt, aber es sieht auf jeden Fall gut aus!" Und die Stimmung ist bestens: Alles tanzt, klatscht und wippt mit den Händen zu den pumpenden EDM-Klängen. Zu bestimmten Liedern bespaßen die Fans die vier Musiker mit dem Schwenken von Luftballons, Seifenblasen oder dem Hochhalten von Schildern mit der Aufschrift "Für immer jetzt".
Dass es für keine Band einfach ist, den Sprung von Teeniestars zum Erwachsenen-Act zu vollziehen, versteht sich von selbst. Tokio Hotel haben das gut gemeistert. Die neuen Songs klingen reifer und elektronischer als früher, richtig cool sogar. Ein paar Seitenhiebe, wohl auch in Richtung Negativ-Presse, kann sich Bill dann aber doch nicht verkneifen: "Never Let You Down" widmet er "den gefakten Leuten da draußen". Und der schillernde Bill zeigt, dass er wirklich alles tragen kann! Vier Mal wechselt er das Kostüm: vom schwarzen Biker-Anzug mit Neonstreifen bis zur blutroten Kunstfellrobe ist alles dabei.
Der mystische Bill
Am besten gefällt uns aber der mystische Bill, der im weißen Flatterhemd, das von Windmaschinen aufgeplustert wird, ein paar hübsche Balladen zum Besten gibt. Zum Song "Noise" bittet er sechs "Kings und Queens auf die Bühne". Gemeint sind jene Fans, deren neureiche Eltern 1850 Euro für das "Feel It All Package" hingeblättert haben, damit der Nachwuchs unter anderem mit der Band vor Publikum tanzen darf. Bill gibt alles, um sein Geld wert zu sein, tanzt mal das Trio zu seiner Linken, dann das zu seiner Rechten an, in das sich doch tatsächlich ein Fan männlichen Geschlechts verirrt hat!
Nach drei Minuten ist der Spaß vorbei: Abgang Bill nach rechts, Fans nach links. Als er wiederkommt, packen Tokio Hotel die Hits aus: "Ich war 13, als ich den Song das erste Mal gesungen habe. Wir ahnten, dass der lange bei uns bleibt", läutet Bill "Rescue Me" ein. Die Fans singen aber lieber die Zeilen der deutschen Version von "Rette mich". Der Frontmann greift nun zu einigen Hilfsmitteln: Er schwenkt einen leuchtenden Stab und lässt mit einer Pistole Dampf ab - das können Scooter auch nicht besser! In der Zugabe gibt es ihre Comeback-Single "Love Who Loves You Back" und den Durchbruchshit "Durch den Monsun", das einzige deutschsprachige Stück des Abends, bei dem alle lauthals mitsingen. Mit Konfetti aus Schaum geht Tokio Hotels Elektro-Dampf-Schaum-Laser-Party im Gebetshaus nach anderthalb Stunden zu Ende. Wir hätten gut noch länger ausgehalten.