Covid-19 stürzt die Welt in enorme Dilemmata: Sicherheit gegen Freiheit, Existenz gegen Gesundheit, Alt gegen Jung. Die Lösung, so viel zeichnet sich ab, führt im Zickzack-Kurs durch die einzelnen Konfliktpaare. Es wird ein ständiges Abwägen und Vortasten. Klingt anstrengend, geht aber wohl nicht anders. Das wurde gestern auch bei Maybrit Illner nochmal klar, die zusammen mit ihren Gästen die verschiedenen Optionen und Szenarien abklopfte.
Doch nach wie vor ist Lockdown, bis mindestens 20. April. Kanzleramtsminister Helge Braun hielt sich bewusst mit positiven Prognosen zurück. "Die Verlangsamung der Infektionsgeschwindigkeit ist träge", sagte er in bestem Mediziner-Beamtendeutsch. Und: "Die Menschen würde am meisten krank machen, wenn ich heute ein Hoffnungssignal sende und übermorgen sage, da habe ich mich geirrt."
Es diskutierten:
- Melanie Brinkmann, Virologin und Leiterin der Forschungsgruppe "Virale Immunmodulation" am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung
- Christiane Woopen, Vorsitzende des Europäischen Ethikrates
- Helge Braun (CDU), Kanzleramtsminister
- Michael Ziemons, Dezernent für Soziales und Gesundheit der Städteregion Aachen
- Dirk Brockmann, Leiter der Forschungsgruppe "Epidemiologische Modellierung von Infektionskrankheiten" am Robert Koch-Institut
"Um frei sein zu können, muss man erstmal leben"
Helge Braun hatte im Corona-Diskurs wiederholt eine "Umkehrisolation" ins Gespräch gebracht, was so viel heißt wie: Man schirmt nur die Hochrisikogruppen ab und lässt den Rest der Bevölkerung ihrem schrankenlosen Alltag nachgehen. Doch auch junge, gesunde Menschen seien bereits an dem Virus gestorben, wandte Christiane Woopen vom Europäischen Ethikrat gegen das Konzept ein. Außerdem dürfe die Selbstbestimmung auch von besonders gefährdeten Personen nicht ganz außer Kraft gesetzt werden. "Manche lehnen eine Isolierung ab und sagen: Wenn ich das Risiko eingehe zu sterben, dann ist das mein Risiko, und das möchte ich eingehen können."

Für Woopen gibt es trotzdem keine Alternative zu den aktuellen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. "Um frei sein zu können, muss man erstmal leben." Sie zitierte eine Hochrechnung des renommierten Wissenschaftsmagazins "Nature", nach der weltweit rund 40 Millionen Menschen am Corona-Virus sterben könnten, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Woopens Vorschlag für eine Lockerung des Lockdowns: Man müsse nach Regionen und Branchen differenzieren und dort das Leben und die Wirtschaft wieder hochfahren, wo die Infektionskurven das erlaubten und die Abstandsregeln einzuhalten seien.
Kontakt-App soll Licht ins Daten-Dunkel bringen
Problematisch bleibt die Datenbasis. "Wir wissen nicht", sagte Maybrit Illner, "wie viel Menschen infiziert, und nicht präzise, wie viele wieder gesund sind. Wir kennen hochgerechnet vielleicht die Zahl derjenigen, die krank und infiziert sind." Sogenannte Contact-Tracing-Apps könnten laut Experten mehr Licht ins Daten-Dunkel bringen und helfen, Infektionsketten zu rekonstruieren. Die Bundesregierung setzt auf die PEPP-PT-Technologie, die zur Zeit vom Heinrich-Hertz-Institut entwickelt wird. Kernfunktion der App: Kommen sich zwei Menschen näher, tauschen ihre Handys anonyme Identifikationsnummern aus. Wird ein Nutzer positiv auf Covid-19 getestet, werden alle Kontaktpersonen benachrichtigt und aufgefordert, sich beim Gesundheitsamt zu melden.
Der Aachener Gesundheitsdezernent Michael Ziemons ist skeptisch. Er wolle sich nicht ausmalen, was für Ängste eine solche Benachrichtigung bei den Adressaten auslösen könne. Außerdem befürchtet er, Infizierte könnten wie Aussätzige behandelt werden, "dabei haben die Leute ja nichts Falsches gemacht." Helge Braun erhofft sich von dem digitalen Programm, Kontakte vollständiger und vor allem schneller zu identifizieren als über Befragungen. Sein Ziel: Eine bundesdeutsche Nutzer-Quote von über 50 Prozent.
Entwicklung eines Impfstoffs wird länger dauern als bis Herbst
Auch die Virologin Melanie Brinkmann hält eine solche App für sinnvoll, um Menschen so früh wie möglich warnen und isolieren zu können. Dazu stellte sie für in rund einem Monat einen zuverlässigen Antikörper-Test in Aussicht, mit dem untersucht werden kann, wie viele Personen bereits geheilt und damit immun gegen das Virus sind. Ihre größte Hoffnung sei jedoch die Impfung, sagte sie. "Sie ist der Heilige Gral, den wir finden müssen, um unser Leben wieder ganz normal führen zu können." Minister Braun versprach, alles zu unternehmen, was ethisch vertretbar sei, um die Entwicklung eines Impfstoffs zu beschleunigen. Allzu große Hoffnungen auf eine schnelle Lösung wollte ihm Brinkmann aber nicht machen: "Die Entwicklung wird länger dauern als bis Herbst."