Dokusoaps Mitgefühl für sechzig Minuten

  • von Peer Schader
Wenn das Fernsehen kommt, um Menschen nach schweren Schicksalsschlägen zu helfen, schauen Millionen zu. Plötzlich stehen normale Leute im Mittelpunkt, die von den Sendern zuvor Jahre lang ignoriert wurden. Was macht das Betroffenheits-Fernsehen so erfolgreich?

Familie Dannenberg würde gerne mal in Urlaub fahren – aber das geht nicht. Stattdessen ein kurzer Ausflug an die Elbe? Auch das ist nicht so leicht. Und daran zu denken, wie die beiden Söhne erwachsen werden und eigene Familien gründen, haben sich die Dannenbergs abgewöhnt. Jeder Gedanke an die Zukunft bringt bloß die Angst wieder. Denn der 15-jährige Malte und sein 17-jähriger Bruder Steffen leiden an der Duchenne-Muskelschwäche und können sich kaum noch ohne Hilfe bewegen.

Vor ein paar Jahren kam der Brief vom Arzt, der eine Untersuchung vorgeschlagen hatte, weil die Brüder öfter als ihre gleichaltrigen Spielkameraden hinfielen und sich abwechselnd das Bein brachen. Die Diagnose war erschütternd: Malte und Steffen sind unheilbar krank. Ihre Lebenserwartung liegt bei Mitte zwanzig.

Doch die Familie hat sich zusammengerauft: Die Brüder lassen sich die Freude am Leben nicht nehmen. Nach der Schule geht es mit dem Rolli ab ins Feld zum "Crossfahren". Das ganze Jahr trainieren sie für das große E-Rollhockey-Turnier. Und mit der 10-jährigen Schwester Jenny, die völlig gesund ist, fahren die beiden zuhause in der Hofeinfahrt Slalom. "Sie behandelt uns wie gesunde Kinder, nur den Pudding isst sie uns ständig weg", sagt einer der Brüder. Und der Vater sagt: "Da müssen wir durch und wir schaffen das auch."

Die Nachbarschaft soll helfen

Zum Auftakt der neuen Reihe "Gemeinsam stark" zeigt Sat.1 am Mittwochabend eine fürs Privatfernsehen ungewöhnlich unaufgeregte Reportage über den Alltag einer Familie, die es hart getroffen hat, die sich ihrem Schicksal aber nicht ergeben will, sondern um jeden gemeinsamen Tag kämpft – auch gegen die Krankenkasse, die partout nicht das rollstuhlgeeignete Auto bezahlen will.

Schicksalsschläge sind das Thema bei "Gemeinsam stark" und es geht vor allem darum, wie ganz normale Menschen sie meistern. Für Sat.1 ist das die längst überfällige Anknüpfung an einen Trend im deutschen Fernsehen, dem sich die Zuschauer kaum noch entziehen können: Auf allen Kanälen stehen plötzlich Menschen im Mittelpunkt, die das Fernsehen Jahre langkonsequent ignoriert hat, weil sie Probleme haben, die eigentlich zu groß sind, um sie zwischen Soaps und Quizshows zu pressen und in einer Stunde abzuhandeln.

RTL 2 hat die Welle mit "Zuhause im Glück" angestoßen: Familien, die es sich aufgrund schwerer Rückschläge im Leben nicht mehr leisten können, bekommen vom Fernsehen das Haus zu Ende gebaut. In "Glück-Wunsch" besuchte Ex-Talkerin Vera Int-Veen bei RTL 2 Alleinerziehende, die nach dem Tod des Partners und dem Verlust des Arbeitsplatzes ohne fremde Hilfe die Kinder groß ziehen. Ein neues Auto musste her, eine neue Wohnung und die Nachbarschaft sollte beim Umzug helfen.

Im Fernsehen

Sat.1 zeigt 18 Folgen von "Gemeinsam stark" immer mittwochs um 22.15 Uhr.

"Helfer mit Herz" (RTL), "Engel im Einsatz" (RTL 2) und "Raus aus den Schulden" (RTL) pausieren derzeit.

Bis 13. Juli testet RTL 2 montags bis freitags "Das Schicksal meines Lebens" um 19.30 Uhr.

Dranbleiben für den Ausweg

Weil das so gut funktioniert hat, ist Int-Veen inzwischen bei RTL in "Helfer mit Herz" unter Vertrag, und RTL 2 hat sich für das ähnlich funktionierende "Engel im Einsatz" Verona Pooth als Ersatz geholt. Eine neue Staffel ist angesichts der guten Quoten ziemlich wahrscheinlich. Und bei RTL wäre man schön blöd, nicht auch "Raus aus den Schulden" fortzusetzen, das am Mittwoch zuletzt locker die "Super-Nanny" übertrumpfte, mit Geschichten hoch verschuldeter Menschen, die von einem Berater den Finanzhaushalt saniert bekommen. Und am Vorabend um 19.30 Uhr testet RTL 2 gerade "Das Schicksal meines Lebens".

Es ist schon erstaunlich, mit welcher Wucht die Schicksals-Dokus im Fernsehen eingeschlagen haben. Es gibt nichts zu gewinnen. Es gibt nichts zu lachen. Es gibt keine Promis. Und doch übt diese Art Fernsehen offenbar eine große Anziehung auf die Zuschauer aus.

Gut gemachtes "Help TV", wie die Dokusoaps in der Branche genannt werden, lebt vom Mitgefühl – und oft auch ganz unschön von der Gewissheit der Zuschauer, dass es Leute gibt, die es noch schwerer haben als man selbst. Manchmal kann man aber auch gar nicht wegschalten, weil es so unfassbar ist, wie viel Unglück einem einzelnen Menschen widerfahren kann – und dann möchte man bitteschön doch gerne wissen, dass es da irgendwo einen Ausweg aus der Misere gibt.

Der Kloß im Hals kommt von allein

Das Gefühl, gemeinsam doch noch was bewirken zu können, wenn nur so jemand gut gelauntes wie Int-Veen kommt und sagt: los geht's – das ist vielleicht der Kern des Erfolgs der Sendungen. Seltsam ist freilich, dass immer erst das Fernsehen vor Ort sein muss, um die notwendige Hilfe anzustoßen. Warum hat sich vorher bloß keiner getraut? Die Leute schämen sich für ihr eigenes Pech, wollen andere nicht damit belasten, sagt Int-Veen. Komisch: Vor einem Millionenpublikum das eigene Schicksal erklären zu müssen, stört die Betroffenen dann offenbar nicht.

Den Vorwurf des Betroffenheitsfernsehens müssen sich die Help-TV-Macher freilich gefallen lassen. Vor allem bei Pooths "Engel im Einsatz" fidelt und düdelt es traurig aus dem Off, wenn die Kamera über alte Familienfotos fährt, die zu glücklicheren Zeiten gemacht wurden. Dabei sind die Sendungen vor allem dann stark, wenn sie die Emotionen der Zuschauer nicht erzwingen. Der Kloß im Hals kommt meist von ganz allein.

Jetzt bleibt nur die Frage: Wer hilft eigentlich denen, die es genauso verdient hätten, aber bei denen noch kein Kamerateam zu Besuch war?

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