Früher war das Jahr am 31. Dezember vorbei. Anfang Januar dann, mit angemessenem Abstand und klaren Blicks, die Ruhe der vorangegangenen Feiertage in sich tragend, schauten die Sender zurück auf die vergangenen zwölf Monate; eine Tradition, die Frank Elstner im Januar 1982 begründet hatte, mit "Menschen `81".
In jüngster Zeit endet das Jahr im Fernsehen immer früher. Mitten im größten Adventstrubel. Jüngstes Beispiel: 2007. Im ZDF wurden die Protagonisten des alten Jahres bereits am 2. Dezember zu den Akten gelegt, mit dem Vermerk "Menschen 2007", Johannes B. Kerner hatte Veronica Ferres zu Gast, Bruce Darnell und die Fußballnationalmannschaft der Damen. Eine Woche später, zu "2007! Menschen, Bilder, Emotionen", begrüßte Günther Jauch auf RTL Maria Furtwängler, Mark Medlock und Franz Müntefering.
Die Bilanz auf Zuschauerseite: Jedem Jahr fehlt ein Monat. Nach zwölf Monaten wird ein ganzes Jahr fehlen. Wie bei einem Spielfilm, der für 120 Minuten angekündigt ist, netto aber nur 90 Minuten dauert; der Rest ist Werbung. Oder wie beim neuen Format 16:9, das als Innovation gepriesen wird, in Wahrheit bewirkt, dass die Zuschauer mit ihren alten Geräten für dasselbe Gebührengeld weniger Bild bekommen.
Jeder will der Erste sein
Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät? Werden nun sämtliche Vorboten froher Feste vorgezogen, den Schoko-Nikoläusen und Lebkuchen folgend, deren septemberlichen Einzug in die Warenhäuser wir so lange belächelten, bis er uns zur lieben Gewohnheit geworden war? Sind die Redakteure bei RTL und ZDF faule Säcke, die über Weihnachten und Neujahr lieber in den Skiurlaub fahren als für ihre Sendung ins Archiv zu steigen? Oder geht es jedem Sender schlicht darum, möglichst der Erste zu sein?
Man könnte auch sagen: Das Fernsehen gibt sich die Deutungshoheit über die Zeit. Es tut dies mit der Chuzpe von Venezuelas Präsident Hugo Chavez, der kürzlich alle Uhren in seinem Land eine halbe Stunde zurückstellen ließ. Begründung: Der Stoffwechsel und der Schlafrhythmus seiner Mitbürger soll mit dem Tagesverlauf in Einklang gebracht werden. Es ist ja, wenn wir ehrlich sind, auch ein Zufall, dass wir in Deutschland uns nach dem Gregorianischen Kalenders richten. Und es hier kein Jahr des Schweins gibt oder Jahr des Hundes. Die Katholiken haben ja, beginnend im Advent, das Kirchenjahr. Warum also nicht auch das Fernsehjahr?
was sagt eigentlich Einstein dazu?
Nach elf Monaten ist das Jahr also zu Ende. Der Dezember hängt, im Wortsinn: zwischen den Jahren. Die Welt, so suggerieren es die Sender uns, schlummert während dieser Zeit unter einer zeitgeschichtlichen Schneedecke. Der Fluss der Zeit - winterlich eingefroren. Der Dezember ist das chronologische Niemandsland. Es gibt ihn, und doch wieder nicht; was sagt eigentlich Einstein dazu?
Prominente beten neuerdings: Bitte, lieber Gott, lass mich nicht im Dezember sterben, das würde ja gar nicht gewürdigt! Oder kann man sie mit der Erkenntnis trösten: Wer im Dezember stirbt, ist gar nicht tot? 2007 also nicht Karlheinz Stockhausen und auch nicht Ike Turner. Nicolas Sarkozy und Carla Bruni sind angeblich nicht in flagranti erwischt worden, Marco Weiss sitzt immer noch in der Türkei ein.
Saddams Hinrichtung am 30. Dezember 2006: Hat nicht stattgefunden. Er wurde auch am 14. Dezember 2003 nicht festgenommen. Es gab am 26. Dezember 2004 keinen Tsunami im Indischen Ozean. Die Sowjetunion hat sich im Dezember 1990 nicht aufgelöst. 1980 wurde John Lennon nicht ermordet. 1970 ist Brandt in Warschau nicht auf die Knie gefallen. 1941 wurde Pearl Harbour nicht angegriffen. Thomas Mann hat 1929 keinen Nobelpreis bekommen. Ach, Jesus gibt es natürlich auch nicht. Und: Am 25. Dezember 1952 startete in Deutschland kein Fernsehen.