Die Lehrerin der achten Klasse hatte alles gut vorbereitet. Für die "Vorhabenwoche" der Grund- und Gemeinschaftsschule St. Jürgen (GGS) plante sie jeden einzelnen Tag, die Woche dient der Vorbereitung auf die Schulpraktika, die im März 2016 anstehen. Für den Dienstagmorgen stand das Kennenlernen eines Flüchtlingsheims auf dem Programm, anschließend sollten die Schüler ein wenig helfen: im Schuppen F Betten beziehen, Kleider sortieren oder in der Küche mit anpacken. Die Lehrerin hatte dazu extra Einweghandschuhe besorgt.
Vor dem Termin fand ein Elternabend statt, an dem die Eltern über das geplante Programm informiert wurden. In einem Elternbrief wurden die einzelnen Tage noch einmal aufgelistet, im Unterricht bereitete die Lehrerin die Kinder vor: Sie wollte ihnen zeigen, wie es in einem Flüchtlingsheim aussieht und was es dort zu tun gibt. Was viele engagierte Freiwillige dort täglich leisten. Vorab war sie mit einigen Kolleginnen vor Ort, um sich einen Überblick zu verschaffen. Doch ihr Vorhaben, soziales Engagement zu vermitteln, kam nicht bei allen gut an. Insbesondere bei einer Mutter nicht, deren Kind nicht einmal auf die GGS geht.
Schulfach "Knechtschaft"
Besagte Lübeckerin hatte "von meine Freundin's Sohn (14) !!!!!!" den Plan zur Vorhabenwoche der GGS gesehen und ihr Entsetzen darüber, dass die Kinder im Heim mit anfassen sollen, via Facebook kundgetan.
Ihr Beitrag stieß dort auf offene rechte Ohren und wurde mehr als 2000-mal geteilt, er verbreitete sich in Windeseile. Reaktionäre Kommentare auf ihrer und vielen weiteren Facebook-Seiten waren die Folge.
Offen für Neues
Was die Mutter vielleicht nicht weiß: Die GGS ist eine integrative Schule. Sie hat zwei DaZ-Klassen (Deutsch als Zweitsprache), in denen Kinder ganz ohne sprachliche Vorkenntnisse aufgenommen werden. So kommt es, dass auch die Sekundarstufe 1 einen Mitschüler hat, der noch nicht lange in Deutschland lebt. Das Thema liegt also nahe. "Die Reaktion dieser Frau ist eine Katastrophe", sagt Schulleiter Stefan Pabst im Gespräch mit dem stern. "Die Flüchtlingskinder, die wir an unserer Schule haben, sind ganz toll, sie sind für jedes Interesse extrem dankbar und unglaublich freundlich."
Die Idee seiner Kollegin, mit ihren Schülern die zur Durchgangsstation umfunktionierte "Alternative" und den Schuppen F, der als Kleidersammelstelle dient, zu besuchen, findet Pabst konsequent und richtig. "Nur so können die Kinder soziales Verhalten begreifen", erklärt er, "hier im Stadtteil St. Jürgen haben wir ideale Voraussetzungen dafür."
Die Behörde schaltet sich ein
Am Mittwoch kam der Anruf des Ministeriums. Man fordert Erklärungen. "Eigentlich erhoffen wir uns Unterstützung von dort, denn hier steht das Telefon nicht mehr still", sagt Pabst. "Doch nun muss meine Kollegin eine Erklärung fürs Ministerium schreiben." Auf Nachfrage beim Ministerium reagiert die Pressesprecherin genervt: "Wir bitten lediglich um Information und kommen damit unserer Pflicht nach."
Dabei ist der Dienstag super gelaufen. Bis auf drei Kinder, die krank waren, hätten alle die Einverständniserklärung der Eltern mitgebracht und begeistert mitgemacht. "Es waren zu dem Zeitpunkt gar nicht viele Flüchtlinge vor Ort. Aber die Kinder konnten trotzdem ein bisschen helfen, ein paar Betten beziehen, Kleider sortieren und Getränke verteilen", sagt Schulleiter Pabst.
Eine Erfahrung, die den Kritikern des Programms offensichtlich fehlt. Die die Kommentatoren, die bei Facebook Sätze à la "Mir macht auch keiner das Bett" schrieben, offenbar nie gemacht haben. Dass Helfen Freude macht, wissen sie nicht. Für sie ist es Arbeit. Kinderarbeit. Knechtschaft.
Lächerlich.
Die Lübeckerin versteht nicht, was die Aufregung soll. Sie hat sich nichts vorzuwerfen.