Sie haben noch nicht einmal Straßennamen. Sie sind so langweilig in Kentwood, 60 Kilometer nördlich von New Orleans, dass an den Straßen nur 1., 2. und 3. Allee steht und dazwischen die 9., 10. oder 12. Straße kreuzt. Hier ist tiefste amerikanische Provinz, und als am 1. Oktober 1997 der Sheriff früh am Morgen das Auto einer Familie, einen Ford Probe mit einem Riss in der Fensterscheibe, beschlagnahmte und es zur Zwangsversteigerung abschleppte, war das mal eine Abwechslung, bei der alle Nachbarn zuschauten. Vom Haus der Familie aus sah auch ein 15-jähriges Mädchen zu. Mummy und Daddy hatten kein Geld mehr. Sie waren pleite, vielleicht reichte es noch nicht wollmal mehr für einen Teddy für ihre kleine Schwester, vielleicht mussten sie Toastbrot ohne alles essen.
Und das Mädchen wusste, dass sie alles ihretwegen ausgegeben hatten. Alles. Die vielen Reisen mit ihrer Mutter, das Flehen, die Tochter in Gesangs- und Tanzschulen aufzunehmen, das Betteln beim Kinderkanal des Disney- Konzerns, ihr doch ein kleine Rolle in der Mickey-Mouse-Show zu geben, die Kostüme, die Hotelnächte. Die Kleine sollte doch berühmt werden. Britney Spears hat später nie gesagt, ob sie das alles wollte. Sie sagte nur, dass sie gern zu Hause vor dem Fernseher stand und Michael Jackson oder Madonna mit einer Haarbürste als Mikrofon in der Hand nachmachte, wenn die auf MTV zu sehen waren. Das machten und machen Millionen anderer Mädchen auch und träumen davon, einmal ein Star zu werden. Träumen davon. Aber Britney Spears hat eine Mutter, Lynne Spears, Lehrerin, der Träumen nicht genug war und die den betonierten Willen im Kopf hatte, aus ihren Kindern Stars zu machen. Und deshalb schleifte sie ihre ältere Tochter bis zu Schauspielschulen nach New York, wo sie für viel Geld Tanzschritte lernen sollte. Aber jetzt, an diesem Morgen 1997, waren sie pleite. Das Auto weg, und das Telefon klingelte ununterbrochen, weil 16 Gläubiger anriefen und von Vater James Spears ihr Geld wollten, knapp 200.000 Dollar Schulden hatte die Familie. Aber Lynne Spears war und ist eine von diesen selbstverliebten Müttern, ein "desperate Housewive" mit wippenden Haarsträhnen auf der Stirn und schnatternden Freundinnen, eine, die von einem Singsang-Optimismus benebelt ist und die dann der Meinung war, das Geld komme schon wieder rein, wenn sie ein Star ist.
Heutiger Wohnsitz: Fettnapf, Gossenstraße, Bäh-Town
Man muss kein großer Pädagoge sein, um zu ahnen, was solche Sätze bei 15-Jährigen anrichten. Und dazu die Bilder vom abgeschleppten Auto und einem Daddy, der zu Fuß zur Arbeit muss, weil das Geld ja in den eigenen Tanzbeinen steckt. In Kentwood fahren wenige Busse. Man muss das alles wissen, um die Tragödie zu verstehen, deren Fotobelege heute täglich, ja beinahe stündlich in den Medienschlund eines Landes, ja der ganzen Welt gekippt werden. "Brit", die vier Buchstaben reichen schon, um immer neue, grelle, glitschige und vor allem moralisch empörende Nachrichten über eine Landestochter anzukündigen, die diese auch zuverlässig liefert: Betrunken torkelnd, ohne Unterwäsche; rauchend mit ihren Kindern im Arm; im Auto mit nicht angeschnalltem Nachwuchs auf der Autobahn; Fahrerflucht nach einem Blechschaden, nachts feiernd und lallend; sich öffentlich den Kopf kahl scherend; in der Entzugsklinik; oder, wie vor zwei Wochen, unsicher stolpernd und dicklich in einem Glitzerbikini vor Millionen Zuschauern bei den MTV-Awards. "Brit", das Mädchen aus Kentwood, heutiger Wohnsitz: Fettnapf, Gossenstraße, Bäh-Town. "Oh, the Horror!", wie das US-Blatt "Entertainment Weekly" vergangene Woche mach dem MTV-Debakel titelte und nur beiläufig mitteilte, dass die gesamte Show sowieso "ein Desaster" war.
Aber das ist einem Publikum egal, das Britney Spears längst zum Fußabtreter für öffentliche Ereiferung gemacht hat. Da nützt es auch nichts, wenn der Kolumnist Chris Nashawaty warnt: "Treibt ihr sie dazu, sich noch mal den Kopf zu rasieren? Lasst sie in Ruhe." Nein, als wäre es ein "Britney-Gate", wird weiter seziert. Brit hatte Spuren von Selbstbräuner unter den Achseln. Ihr fehlte ein Fingernagel. Sie hatte getrunken. Vier Drinks, sagen die einen. Zehn Drinks, sagen die anderen. 50 Drinks, denken alle. Zeugen? "Sources said", heißt so was in den USA, frei übersetzt "jemand hat gesagt", und über Britney Spears sagt andauernd jemand etwas, egal, wie weit weg, egal, wie informiert. So wie hier eine 25- Jährige täglich lärmend und feixend geschlachtet wird - das ist selbst in der nicht gerade zimperlichen Unterhaltungsindustrie neu. Mitleidlos stürzt man sich auf einen Star, der doch im Grunde nur vorführt, wie man endet, wenn einem die Kindheit und jede Privatsphäre geraubt werden. Dieser Raub begann 1997, vor genau zehn Jahren.
Britney wurde als Pop-Bunny um die Welt geschleift
Denn nur zwei Monate nachdem bei den Spears das Auto vom Hof geholt wurde, kaufte die Firma Jive Records einen Song mit der jungen Sängerin Britney. Endlich, hallte es durch das Haus in Kentwood. "Baby One More Time" hieß das Stück, und Britney erzählte später, dass es ihre Idee war, ein Video dazu in der Schule zu drehen. Song und Video explodierten schier. Mit Zöpfen und knappem rosa Top turnte das Mädchen durch eine Schule und traf genau den Nerv eines neuen, hungrigen MTVPublikums. Denn neuerdings saßen Töchter und Väter vor den Fernsehern, die beide bedient werden wollten, und die beide die Zeile "Hit Me, Baby, One More Time" unterschiedlich verstanden. Die Töchter vielleicht als "noch mal tanzen, noch mal drehen", und die Väter in ihren Lolita- Fantasien vielleicht als ... lassen wir das. Die Single war der Hit des Sommers 99, verkaufte sich millionenfach und war zugleich ein großes Missverständnis im Kopf der jungen Britney Spears. Denn sie dachte nun, sie sei am Ziel. Eine Sängerin. Etwas, was mit Identität zu tun hat. Und niemand sagte ihr die Wahrheit. Britney wurde als Pop-Bunny um die Welt geschleift, als großartigste Projektionsfläche ebenjener millionenfachen Töchter- und Väterfantasien, ja sogar Mütter konnten an Britney entdecken, dass es sich lohnt, die Kinder in Ballett- und Tanzkurse zu stopfen. Britney Spears war damals 17, und wer sich noch an sich selbst mit 17 Jahren erinnert, der weiß, wie prägend, wie wichtig und wie leidenschaftlich diese Jahre waren. Die Erziehungsforschung sagt, dass man ab frühestens 20, 25 Jahren Verpasstes im Leben nachholen kann. Die Jahre der Pubertät aber sind nicht nachholbar. Werden sie nicht gelebt, sind sie weg.
Und Britneys Jahre waren unwiederbringlich weg. Mutter Lynne und die Plattenindustrie formten aus dem Mädchen einen Pop-Roboter in nie dagewesener Perfektion. Und sie konnte sich nicht wehren, denn da war dieses nagende Gefühl, ihren Eltern, ihrer Familie etwas zu schulden - und sich dafür sogar enteignen lassen zu müssen. Was muss ein Mädchen denken, dem die Mutter sagt: Wir lassen mal deinen Busen vergrößern, und dem Marketingleute gleichzeitig sagen: "Erzähl allen, dass du noch Jungfrau bist." Vielleicht war sie es sogar, vielleicht auch nicht, aber was geht das die Welt an? Ich habe Britney Spears mehrmals getroffen, zu Interviews und diesem ganzen PR-Gedöns. Das erste Mal 1999 in London, da saß vor mir ein noch 1,58 Meter kleines Mädchen mit Akne im Gesicht vom vielen Make-up und geplatzten Äderchen in den flackernden Augen. Wir saßen lange zusammen, und irgendwann waren die PR-Tonbänder "ich bin noch Jungfrau" und "ich genieße das Leben" und so weiter, die sie mit dünner Stimme abspulte, leer, und ganz kurz nur kam eine andere, eine echtere Britney durch. Sie flüsterte Sätze mit "Fuck" und "Shit", sie sagte, dass es viele "Assholes" um sie herum gebe, und vielleicht hätte sie noch mehr erzählt, wenn nicht eine Freundin ihrer Mutter und kleiderschrankgroße Bodyguards sie zum Flughafen getrieben hätten.
Kein anderer Prominenter wird in Los Angeles so gejagt wie die Spears
Zwei Jahre später sahen wir uns wieder in Paris, da war Britney schon nur noch Produkt, sie sprach nur noch Tonband und hatte, es war Frühjahr, absurd unpassend fast nur einen Bikini an. Später schrieb einmal eine Zeitung, dass man weiß, wie lang 15 Minuten sein können, wenn man sich mit Britney Spears unterhält. Bis heute hat Britney Spears 76 Millionen Platten verkauft, sie hatte mehrere Nummer-eins-Hits, sie spielte in einem Hollywood-Film, "Crossroads", und sie war jahrelang der Name mit den meisten Google-Treffern im Internet. Und doch ist sie musikalisch überschätzt. Viele ihrer Songs, wie "Toxic" oder "Boys", sind seelenlose Versuche, irgendwie in die Nähe des schwarzen HipHop zu kommen, technisch überproduziert und mit fast pornografischen Videos in den Markt gedrückt. Genauso kühl und mechanisch blieben auch ihre Live-Auftritte, bei denen sie oft Playback sang und viel Dampf mit Tänzern und Bühnenshow machte. Besser, ehrlicher und dicht am Gemüt ihrer Zielgruppe Mädchen war sie mit Songs, die zynischerweise wie Hilferufe ihrer selbst klangen, "I’m Not A Girl, Not Yet A Woman" etwa oder die bittere Wahrheit "I’m Born to Make You Happy", ich bin geboren, um euch glücklich zu machen. Und die Mutter reich. Denn Lynne Spears ließ sich ihr Investment gut bezahlen. Britney kaufte den Eltern ein neues Haus in Kentwood. Als die Ehe der Spears in die Brüche ging, machte Mutter Spears sich auf den Weg, auch Britneys kleine Schwester Jamie Lynn zu verk..., zu vermarkten.
Und so begann 2002 der Absturz. Es war nicht viel passiert, Britney Spears hatte nach dem Ende ihrer Liebelei mit Justin Timberlake einfach die Leibeigenschaft gekündigt. Und sie versuchte, im Schnellgang all das nachzuholen, was ihr an Leben vorher verboten war. Jeder Haftentlassene macht das. Anfangs entschuldigte sich Britney noch auf ihrer Homepage bei ihren Fans für fragwürdige Partyfotos und Gelagegerüchte, "ich will wie jedes Mädchen auch mal feiern". Aber was konnte sie anders tun, als durch ein bisher nicht gelebtes Leben zu torkeln? Sie nahm sich den erstbesten Mann, einen ihrer Ex-Tänzer, Kevin Federline, und bekam zwei Kinder. Die Scheidung ließ nicht lange auf sich warten. Der noch laufende Prozess um das Sorgerecht für die Kinder ist auch schon wieder Futter für die "Bad Britney Show" in den Medien. Viele Karrieren enden so oder ähnlich, manche Ex-Prominente schaffen den Absprung, leben in vielleicht kleinkarierter Normalität. Wenn man sie lässt. Britney ließ man nicht, eine zynische Öffentlichkeit wollte auch Britney Part 2, den freien Fall eines Sternchens. Kein anderer Prominenter wird in Los Angeles so gejagt wie die Spears.
"You’ll never see it my way. Because you’re not me"
Ihre Fahrtrouten, ihre Häuser, die Läden, in denen sie einkauft, sind 24 Stunden von Herden lauter Paparazzi bewacht, sie braucht nur den kleinen Finger aus der Tür zu stecken und hört schon das Knattern von Hubschraubern. der Kampf um die Bilder wird kriegerisch ausgetragen, Fotografen schlagen auf ihr Auto, es wird gerempelt und gehauen, weil jedes noch so unscharfe Brit-Bild weltweit verkauft wird. Die Scheiter-Show ist so einträglich, dass sich sogar der zum Klingelton- und Kuppelshow-Sender verfallene Kanal MTV nicht scheute, Spears als Showopener einzuladen - in der unausgesprochenen Hoffnung, dass es schön danebengehen würde. An Britney "wird die Verachtung deutlich, die unsere Kultur für Frauen ihres Schlages empfindet", schrieb die US-Autorin Rebecca Traister. "Wenn sie jung sind, werden sie gehätschelt und hochgesext, nur um sie wenig später runterzumachen." Beinahe einsam und verlassen wirkt die Spears-Homepage, früher eine von Teenagern dauergeklickte Britney-Nachrichten- Zentrale. "You’ll never see it my way. Because you’re not me" hat sie da hinterlassen. Anders gesagt, keiner versteht mich. Und in ihrem ersten großen Hit "Baby One More Time" hieß es schon vorausahnend "My loneliness is killing me". Hoffentlich nicht.