Im Winter vor einem Jahr bekam die 76-jährige Nadeschda Alexandrowna Doroschko, die in dem Städtchen Artemowsk in der Ukraine lebt, Post aus Deutschland. Absender: Familie Piekenbrock. Im Kuvert steckten ein Brief und Farbfotos. Darauf zu sehen: vier erwachsene Männer und ihre Ehefrauen. Nadeschda überlegte: Wer waren diese Leute? "Die Frauen sind hübsch", dachte Nadeschda, "sie haben schöne Frisuren." Die Männer waren ihr zunächst fremd. Doch dann kam die Erinnerung: Fast 60 Jahre zuvor war Nadeschda Kindermädchen der Männer gewesen, 1942, in Meppen im Emsland. 17 Jahre alt war sie damals, ein bildhübsches Mädchen und Zwangsarbeiterin im Hause Piekenbrock. "Natürlich", dachte die alte Frau, "das sind Everhard, Reinold, Walter und Dirk. Meine Knaben!"
Zwei Jahre hatte sie als Kindermädchen gearbeitet, ehe sie 1944 in einem Arbeitslager im Emsland interniert wurde. Zwischen 1945 und 1948 musste sie in der Sowjetischen Besatzungszone schuften, bis sie endlich nach Hause durfte. Doch dann der furchtbare Empfang: Sie sei ein "deutsches Mädchen", schimpften die Nachbarn. Nadeschda war eine Ausgestoßene. 1951 heiratete sie einen Geologen und zog nach Artemowsk, das für seine Salzquellen berühmt ist. Nadeschda und ihr Mann wohnen noch immer in Artemowsk und führen ein sehr bescheidenes Leben. Ihr ganzer Stolz sind zwei Ferkel, Hühner, Enten, ein paar Kaninchen - und ihr Garten.
Als in Deutschland der Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter eingerichtet wurde, stellte auch Nadeschda einen Antrag. Die Behörden fragten in Meppen nach, ob die Angaben der alten Frau der Wahrheit entsprächen. Gefragt wurde auch Walter Piekenbrock, der noch immer in seiner Heimatstadt lebt und so erfuhr, wo sein ehemaliges Kindermädchen heute lebt. Sein Bruder Everhard schrieb Nadeschda Doroschko Ende 2001 und schickte die Fotos. Wenige Tage später, im Januar, antwortete ihr früheres Kindermädchen - auf Deutsch. "Danke, daß Sie mich nicht vergessen haben. Vielen vielen Dank für alles, meine lieben erwachsenen Knaben." Für die vier Männer der bewegendste Brief, den sie in diesem Jahr erhalten haben. Nadeschda denkt oft an früher und an das Leben in Meppen. Vor einem Wiedersehen mit "ihren Knaben" hat sie allerdings Angst: "Ich bin sehr alt, und so dürfen sie mich nicht in Erinnerung behalten. Sie kennen mich als schönes, junges Mädchen, und das soll so bleiben."