Bei den Londoner Modewochen 1998 lief das beinamputierte MODEL, Teilnehmerin bei den Paralympics in Atlanta, für Givenchy - und löste damit heftige Diskussionen ausZur Person :
Aimee Mullins, 24, lebt in New York, studierte an der Georgetown Universität Diplomatie und arbeitet heute höchst erfolgreich als Model. Die Tochter eines Iren war ohne Wadenbein zur Welt gekommen, die Ärzte mussten ihr im Alter von einem Jahr die Unterschenkel amputieren. Mit Prothesen ist keine schneller als sie: Ihr Weltrekord von 15,77 Sekunden über 100 Meter hat ebenso Bestand wie ihre Bestmarke über 200 Meter. Für die Modenschau von Alexander McQueen, dem Chefdesigner von Givenchy, trug sie 1998 einen ledernen Panzer, Rüschenrock und hölzerne Stelzen, an denen ein Kunstschnitzer fünf Wochen lang gearbeitet hatte
stern: »People« wählte Sie 1999 zu einem der 50 schönsten Menschen der Welt. Was war das für ein Gefühl?
Mullins: Ich war völlig platt. Auf einmal drehte ich zusammen mit Kate Moss und Andie McDowell für L'Oreal TV-Spots.
stern: Vor zwei Jahren hat Sie der britische Designer Alexander McQueen auf den Laufsteg geholt, obwohl Sie von Kindheit an Prothesen tragen. Fühlten Sie sich da nicht für einen kalkulierten Skandal missbraucht?
Mullins: Überhaupt nicht. Ich habe schon lange zuvor Schönheitskonzepte hinterfragt. Und: Hatten Sie nie das Gefühl, ich missbrauche McQueen, um meine Botschaft in die Welt hinauszuposaunen? Immerhin gelang es mir, mit zwei künstlichen Beinen zum Star bei einem der wichtigsten Modeereignisse des Jahres zu werden. Es gibt eben positive wie negative Ausbeutung.
stern: Wie definieren Sie denn Schönheit?
Mullins: Strahlende Spiritualität, die ausschließlich von innen her leuchtet.
stern: Und wen finden Sie schön?
Mullins: Paul Newman - seit er 70 ist.
stern: Was unterscheidet Sie von anderen Models?
Mullins: Ich habe Vergangenheit. Die meisten erfolgreichen Models stehen vor der Kamera, seit sie 14 sind. Ich begann erst mit 22. Mir sagte nie einer, ich sei zu fett oder ich müsse mir den Kopf rasieren, um trendy zu wirken. Ich wurde immer mit einem eigenständigen Charakter assoziiert. Viele Models sind doch bloß Kleiderbügel.
stern: Sie werden aber ständig über Ihre Behinderung definiert, sind ein Topmodel, weil Ihnen die Beine fehlen. Wäre es nicht einfacher, ein gut bezahlter Kleiderbügel zu sein?
Mullins: Manchmal wünsche ich mir das schon. Nach der McQueen-Schau habe ich versucht, als normales Model zu arbeiten. Aber niemand mochte mich fotografieren, ohne mein Handikap zu erwähnen. Obwohl sich 75 Prozent der Model-Jobs oberhalb der Taille abspielen. Manche Kolleginnen sagen, sie würden alles tun, um nicht bloß als hübsches Gesicht und perfekt gebauter Kleiderständer zu gelten.
stern: Haben Sie Neid zu spüren bekommen?
Mullins: Nicht mal von denen, die dauernd ihre Kolleginnen niedermachen.
stern: Sie wollen gern zum Film. Was, wenn ein Regisseur mit Ihnen Nacktszenen drehen will?
Mullins: Wenn das Projekt stimmt, mach ich's. Warum soll ich nicht sexy sein?
stern: Und wie steht's mit Nacktfotos?
Mullins: Wenn der Fotograf und die Umstände stimmen - klar. Damit kann ich die Debatte darüber, was ein schöner Körper ist, auf eine noch provokantere Ebene heben. Mein Körper ist nicht weniger sexy, bloß weil die Beine fehlen.
stern: Bekannt geworden sind Sie zunächst als Sportlerin. Sie halten noch immer zwei Sprint-Weltrekorde. Weshalb treten Sie nicht bei den Paralympics in Sydney an?
Mullins: Wie in Atlanta müsste ich in Australien erneut gegen Armamputierte rennen, da habe ich keine Chance. Denn das IOK verlangt in jeder Kategorie sechs Sportlerinnen. Ich bin aber mit meiner Behinderung die einzige.
stern: Haben Sie den Sport ganz aufgegeben?
Mullins: Nein. Bei Team-Triathlons werde ich die Radstrecken absolvieren. Und vielleicht laufe ich einen Marathon, obwohl das für mich einer Everest-Besteigung gleichkommt.
stern: Fürs Laufen brauchen Sie spezielle Prothesen. Wie viele Paare besitzen Sie sonst noch?
Mullins: Sieben, jeweils für unterschiedliche Absatzhöhen. Jetzt will ich noch Stiefel, die übers Knie reichen. Dann trag ich beim Tanzen Miniröcke. Auf den neuen Beinen wirken sogar die meisten Selbstbräuner.