was-macht-eigentlich Jens Reich

Der Molekularbiologe und einstige DDR-Bürgerrechtler trat vor fünf Jahren als erster Ostdeutscher bei der Wahl zum Bundespräsidenten an - obwohl er als Kandidat der Grünen wußte, daß er chancenlos sein würde

Der Molekularbiologe und einstige DDR-Bürgerrechtler trat vor fünf Jahren als erster Ostdeutscher bei der Wahl zum Bundespräsidenten an - obwohl er als Kandidat der Grünen wußte, daß er chancenlos sein würde STERN: Wenn Sie 1994 zum Bundespräsidenten gewählt worden wären, was hätten Sie anders gemacht als Roman Herzog?

REICH: Nach vier Wochen Amtszeit wäre wohl der erste Wirbel dagewesen. Denn ich hätte den chinesischen Premier Li Peng wegen seiner Menschenrechtspolitik niemals empfangen.

STERN: Diesmal präsentiert die Union eine Ost-Kandidatin. Ist die Nominierung Dagmar Schipanskis mehr als eine symbolische Geste?

REICH: Die Union hätte 1994 eine Ost-Kandidatin präsentieren sollen. Damals hätte sie die Möglichkeit gehabt, sie auch durchzubringen.

STERN: Sie sind im Herbst 1989 kopfüber in die Politik gesprungen und saßen für die Bürgerrechtsgruppe Neues Forum in der letzten DDR-Volkskammer. Ein halbes Jahr später sind Sie wieder ausgestiegen. Warum?

REICH: Ich hatte Angst, in diesem Geschäft verbraten zu werden. Hinzu kam, daß meine Arbeitsgruppe mich inständig anflehte, ins Institut zurückzukommen.

STERN: Den Wunsch haben Sie erfüllt. Ist Politik damit passe?

REICH: Als Beruf: ja. Als Interesse: nie. Ich kann mir nicht vorstellen, den Tag ohne intensive Zeitungslektüre zu beginnen.

STERN: Das Zentralinstitut für Molekularbiologie, wo Sie immer noch eine Arbeitsgruppe leiten, hat die Wende nur knapp überlebt.

REICH: Stimmt. Es wurde im Rahmen des Einigungsvertrages erst vollständig aufgelöst und dann unter anderem Namen mit ähnlicher Zielstellung neu begründet. Bloß, bei diesem merkwürdig anmutenden Akt sind viele Menschen auf der Strecke geblieben - wie überall.

STERN: Durften Sie nur bleiben, weil sich die neue Institutsleitung die Peinlichkeit, einen Beinah-Bundespräsidenten zu feuern, ersparen wollte?

REICH: Ich war schon vorher übernommen worden. Ausschlaggebend war wohl, daß sich meine Arbeitsgruppe bereits zu DDR-Zeiten mit der Computer-Analyse von Genomstrukturen beschäftigte.

STERN: Ah ja.

REICH: Dabei geht es um den Aufbau der genetischen Informationen aller Lebewesen. Eine Lawine von Daten über den Menschen, die Taufliege oder den Rundwurm, die ab-gelesen werden muß.

STERN: Wieviel Erbinformationen enthält denn der kleine Rundwurm?

REICH: Etwa 80 Millionen Buchstaben. Das entspricht einem Umfang von fast 25000 Buchseiten.

STERN: Was läuft bei Ihnen heute anders als vor der Wende?

REICH: Zunächst einmal nicht viel. Ich bin von früh bis spät im Institut, wie immer. Nur, jetzt habe ich einen kolossalen administrativen Streß, damals hatten mich die Genossen ja von allem ferngehalten. Ich reise auch mehr - und weiter.

STERN: Bleibt da noch Zeit für Freunde?

REICH: Nicht viel. Aber alle 14 Tage trifft sich unser alter 'Freitagskreis'. Seit Anfang der Achtziger diskutieren in dieser Runde etwa 30 Wissenschaftler, Dramaturgen und Philosophen über Politik. Früher allerdings mehr konspirativ.

STERN: Wovon träumen Sie?

REICH: Von Tagen, die 30 Stunden haben.

STERN: Und was würde mit den gewonnenen sechs Stunden passieren?

REICH: Ich möchte gern mehr Sprachen lernen. Seit meiner Jugend sammle ich Wörterbücher und Lehrbücher aller europäischen Sprachen. Mehr Zeit wäre dann endlich auch für Musik.

STERN: Für Hausmusik?

REICH: Leider nein. In meiner Jugend habe ich Klavier gespielt. Als Reminiszenz steht im Wohnzimmer noch ein Flügel. Aber der wird nur noch zu Geburtstagen aufgeklappt.

Mit Jens Reich sprach STERNRedakteur Dieter Krause.

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