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Hamburger Schauspielhaus Komm, lass uns schimpfen

Lina Beckmann, Angelika Richter, André Jung, Jan-Peter Kampwirth, Gala Othero Winter (v.l.n.r.) in "Die Übriggebliebenen"
Lina Beckmann, Angelika Richter, André Jung, Jan-Peter Kampwirth, Gala Othero Winter (v.l.n.r.) in "Die Übriggebliebenen"
© Lalo Jodlbauer
Zum 30. Todestag erlebt der wunderbar bösartige Dramatiker Thomas Bernhard ein großes Comeback am Hamburger Schauspielhaus. Besonders stark in "Die Übriggebliebenen": die Schauspielerinnen Lina Beckmann und Angelika Richter.

Thomas Bernhard ist vor 30 Jahren gestorben, vielleicht hatte ihm sein Bruder, ein Arzt, dabei geholfen, sein lebenslanges Leiden zu beenden. Vielleicht ist Bernhard, der ewig Lungenkranke, einfach erstickt. Die offizielle Todesursache lautete damals, im Februar 1989, Herzversagen.

Mit Bernhards Tod ging auch eine große Theaterzeit auf deutschsprachigen Bühnen zu Ende, "die allergrößte", würde eine Bernhard-Figur sagen. Wer einmal die Inszenierung eines Bernhard-Stückes durch den Regisseur Claus Peymann und mit Bernhard Minetti in der Hauptrolle gesehen hat, und sei es nur im Fernsehen oder auf Youtube, der wird augenblicklich erstens zum Bernhard- und zweitens zum Theater-Fan.

30 Jahre nach seinem Tod wird Bernhards Werk weiterhin gepflegt und hoffentlich auch gelesen, und wer es selbst einmal probieren will, sollte mit der Ungeheuerlichkeit von "Der Atem. Eine Entscheidung" anfangen, der Geschichte von Bernhards Zeit im Sterbezimmer des Landeskrankenhauses Salzburg, in das der jungendliche Thomas geschoben und sich selbst überlassen wurde, nachdem er an einer nassen Rippenfellentzündung erkrankt war.

So wie Thomas Bernhard konnte keiner schimpfen

Ein Mensch, der gegen das Sterben anlebt und anschreibt, ein Mensch, der dem Tod das Leben so lange wie irgend möglich abringt: Das ist Thomas Bernhard, der fast pausenlos geschrieben hat, Erzählungen, Romane, Theaterstücke. Und immer wieder beschimpfte er die Welt, beschimpfte er Städte ("Bochum soll mich am Arsch lecken"), beschimpfte er die Nationalsozialisten, am allerliebsten die österreichischen Nationalsozialisten, beschimpfte er die Künstlerwelt, am allerschönsten in dem Roman "Holzfällen", der sich streckenweise liest wie ein Buch-gewordenes Interview mit Klaus Kinski.

So wie Bernhard konnte keiner schimpfen, aber es scheint, als habe jemand den Regler leiser gedreht in den vergangenen Jahren. Man liest Bernhard hoffentlich noch, aber man hört ihn nicht mehr so richtig. Er scheint von den Theaterbühnen verschwunden zu sein. Was natürlich auch eine Ungeheuerlichkeit ist, denn warum wird ständig irgendwo Brecht gespielt und warum kein Bernhard?

Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg (einer Stadt, die Bernhard nie beschimpft hat, weil hier eine Frau lebte, in die er verliebt gewesen war) hat nun den Regler wieder hoch gedreht: In "Die Übriggebliebenen", das am Samstagabend Premiere feierte (ja, feiern ist hier das passende Wort), hat die Regisseurin Karin Henkel gleich drei Bernhard-Stoffe ineinander verwebt: Die Dramen "Ritter, Dene, Voss" und "Vor dem Ruhestand" sowie den Roman-Brocken "Auslöschung".

Es geht um Geschwisterliebe und Geschwisterhass

Es geht in allen drei Stoffen um Geschwisterliebe, Geschwisterhass, Geschiwsterlebensverschwendung, Geschwisterverdunkelung. In "Ritter, Dene, Voss" kümmern sich zwei Schwestern um den (gegen den Rat des Arztes) aus der Irrenanstalt entlassenen Bruder Ludwig, einen Philosophen, der an einem Großwerk über die Logik arbeitet, der am liebsten grobe Baumwollunterwäsche trägt und beim Abreiben mit einem Frottierbadetuch "Eroica" von Beethoven hören möchte. Am Ende stopft sich Ludwig in einem Monolog des Hasses seine Lieblingsmehlspeise ins Maul: "Siehst du, wie ich deinen Brandteigkrapfen hinunterwürge, ein so ekelhafter Brandteigkrapfen, ein so widerwärtiger Brandteigkrapfen, meine Lieblingsmehlspeise, siehst du?"

Ein großes Solo für die Schauspielerin Lina Beckmann, die den Ludwig spielt und der beim Schlussapplaus immer noch der Brandteigkrapfen-Teig an den Fingern klebt.

Parallel läuft das Drama um die Schwestern Clara (querschnittsgelähmt) und Vera (Angelika Richter mit bizarrem Gummibusen) und ihren Bruder Rudolf ab, einem Richter, kurz vor dem Ruhestand, der alljährlich am 7. Oktober den Geburtstag von Heinrich Himmler feiert und dazu seine SS-Uniform anlegt, der Fürst von Metternich-Sekt in sich reinkippt, den bizarren Busen seiner Schwester Vera begrapscht und mit ihr im Fotoalbum von früher blättert: die schönsten Kriegsverbrechen, all die herrlichen Ermordeten am Wegesrand!

Nur die ebenfalls parallel laufende "Auslöschung" bleibt ein wenig blass; immerhin beschert sie dem Zuschauer zwei schöne Leichen, die im ersten Teil des Stückes auf der Bühne ausgestellt werden.

Sprache, so kraftvoll wie ein Riff von Led Zeppelin

Bernhards Sprache wirkt immer noch so kraftvoll wie ein Riff von Led Zeppelin, sie reißt auch dort mit, wo kaum mehr Handlung zu erkennen ist, wobei bei Bernhard die Handlung immer nur schwach erkennbar ist. Man merkt immer nur, dass etwas zu Ende geht, wenn die ultimative Katastrophe eintritt.

In etwa zweidreiviertel Stunden werden außerdem noch Theaterzuschauer beschimpft, werden Schauspieler beschimpft und Ärzte, und auch Porträtmaler sowie diejenigen, die sich von Malern porträtieren lassen, werden beschimpft: "Millionen Kinder verhungern in Afrika, und ihr lasst euch malen", schimpft Ludwig.

Wir, die Beschimpften, spendeten am Ende eines großen Theaterabends warmen Applaus. Es war ein Fest.

Weitere Vorführungen finden statt am 18.2., 10.3., 27.3., 18.4., 26.4. und 11.5.

Karten unter schauspielhaus.de

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