Text: Michèle Roten | Fotos: Silvia Conde
Ich hasse die Kälte. Alles an ihr. Wie sich das Gesicht anfühlt, wenn es kalt ist. Dass man so viele Sachen anziehen muss. Dass man sich mit all den Sachen fast nicht mehr bewegen kann. Dass man sofort schwitzt wie ein Hund, sobald man irgendwo drinnen ist. Dass ständig die Nase läuft. Dass der Speichel zähflüssig wird und die Gedanken auch.
Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, war sehr schlecht isoliert und noch schlechter beheizt. Wenn meine Schwester und ich uns anzogen, dann klemmten wir einen Föhn zwischen die Knie oder kauerten uns direkt vor die Heizung in der Küche, die ein wenig warme Luft rauspustete. Wenn wir abends spät nach Hause kamen, wartete eine Wärmflasche in unserem Bett. Auch heute noch ist das für mich der Inbegriff mütterlicher Liebe.

Ich dachte also, ich wüsste ein bisschen, wie es ist, ein Zuhause zu haben, das nicht gerade behaglich beheizt ist. Dann zog ich nach Berlin. Wir waren zwei Frauen, jung, dumm und gänzlich unerfahren, was die Wartung von Kohleöfen angeht, und es war Winter, minus zwanzig Grad. Ein sehr langer Winter. Wie bei der Temperatur gibt es eine gemessene und eine gefühlte Version von Zeit – und der Berliner Winter in diesem Jahr dauerte mehrere Jahre. Als er mit uns fertig war, waren wir psychisch und physisch gebrochen. Am Anfang hatte es noch etwas Amüsantes. Schnee in Großstädten wirkt ja immer wie ein Irrtum. Alles, was eine Stadt ausmacht, wird verkehrt: Was schnell sein sollte, wird langsam; was laut ist, wird leise; was draußen ist, wird gemieden. Am Anfang veranstalteten wir noch eine Party, deren einziger Zweck es war, irgendwann eine Menschenschlange vom Keller bis in den dritten Stock zu bilden, um die Fünfzehn-Kilo-Kohlekartons hochzureichen. Wir fanden es noch lustig, uns am Morgen in die Bettdecken gewickelt am Küchentisch gegenüberzusitzen, bis die Kohle richtig glühte. Oder fernzusehen in Mantel und Mütze. Manchmal machten wir den Backofen an und die Ofentür auf. Irgendwann waren wir kaum noch zu Hause. Wir luden uns selber übers Wochenende zu Freunden ein, die eine richtige Heizung hatten. Wir waren fast täglich in der Sauna um die Ecke. Es kam auch vor, dass ich nachts mit irgendwelchen Männern nach Hause ging – einfach weil die Chance groß war, dass es dort wärmer sein würde als in unserer Wohnung.
Die frierende Frau: ein Klischee
Wenn ich zu Hause war, saß ich gegen den Ofen gelehnt, den Laptop auf dem Schoß. Irgendwann hatte ich rote Flecken am Rücken, die erst im Frühjahr wieder weggingen. Meine Schultern waren von der ständigen krampfhaften Einigelung so verspannt, dass ich chronische Kopfschmerzen bekam. Ich hatte Muskelkater vom Zittern. Wenn man ständig körperlich angespannt ist, bleibt auch die Psyche nicht geschmeidig. Unsere Freundschaft zerbrach fast in und an diesem Winter. Ich hasse die Kälte also wirklich.

Ich weiß schon, dass ich damit einem Klischee entspreche: dem der traurigen, blassen Frau, die permanent klagt, »ich hab irgendwie so kalte Hände«, und sich diese Hände an riesigen Teetassen wärmen muss. Die Wissenschaft macht es sich einfach: Frauen haben weniger Muskeln als Männer und eine dünnere Haut. Deshalb frieren sie leichter. Aber warum frieren dann manche Frauen stärker als andere – egal wie viel oder wenig Muskeln sie haben? Warum schlagen manche Frauen einfach den Kragen hoch und hassen die Kälte nicht wie ich, mit allem, was sie haben? Doch alles nur Kopfsache? Um das herauszufinden, mache ich mich auf den Weg ins Eis.

Kiruna ist die nördlichste Stadt Schwedens. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei minus zwei Grad Celsius. Jetzt, im Januar, fällt sie in einer klaren Nacht auch mal auf minus vierzig. Im Moment aber, sagt der Rezeptionist im Hotel, sei es ungewöhnlich heiß. Er benutzt tatsächlich das Wort »heiß« und meint damit, dass heute nur minus neun Grad herrschen. Eine Hitzewelle geradezu. »Man gewöhnt sich an die Kälte«, sagt seine Kollegin, die in Kiruna aufgewachsen ist, »ich finde es ab minus zwanzig Grad ein bisschen frisch.«
Neun Grad unter null sind etwas anderes, wenn man auf einem Berg in der Sonne sitzt und einen Jagertee trinkt. In Kiruna ist es minus neun Grad und außerdem dunkel. Man wacht morgens auf und draußen ist es noch Nacht, zwischen zehn und halb zwei ist es später Nachmittag, danach ein paar Stunden Abend und ab vier wieder tiefe Nacht. Die Sonne hievt sich knapp über den Horizont und geht dann fast sofort wieder entschuldigend seufzend unter. Man schaut sich um in dieser Stadt – viel Schnee, wenig Menschen, dürre Bäume wie Bartstoppeln – und denkt an »Fargo«. Die Menschen sind nett. Man denkt misstrauisch: Zu nett? Schnee. Der alles überdeckt. Spuren verwischt. Fargo.
Kiruna ist kalt. Sehr kalt.
Es sind rund anderthalb Flugstunden von Stockholm nach Kiruna, ein Flug über mondähnlich leeres Gebiet: Schnee, kahle Bäume, zugefrorene Flüsse und Seen, Schneeflächen, Schneeberge, Schnee. Sonst nichts. Die Stadt wurde gebaut, weil hier die größte unterirdische Eisenerzmine der Welt liegt. Genauer: Sie befindet sich größtenteils direkt unter der Stadt, wie erst zu spät herausgefunden wurde. Deshalb wird Kiruna bis 2033 um etwa drei Kilometer verschoben. Was neu ist, wird plattgemacht, was alt und schützenswert ist, versetzt man en bloc. Jetzt geht es darum, alle Einwohner zufriedenzustellen, die Verhandlungen nehmen kein Ende. Sehr zufrieden ist der eine Mann, dem die verrottete Scheune mitten auf dem neuen Stadtgebiet gehört – sein karges Fleckchen Land ist jetzt Millionen wert.
Ein paar Kilometer außerhalb von Kiruna, in Jukkasjärvi, wird alljährlich das Icehotel gebaut: ein, nun ja, Hotel aus Eis und Schnee. Tagsüber können die Zimmer, die von Künstlern gestaltet wurden, von Touristen besichtigt werden. Es ist schon sehr schön. Das Eis, das in Blöcken aus dem Fluss Torne geschnitten wurde, ist so klar, dass es blau leuchtet. In einem Zimmer steht ein Elefant mitten im Raum (es heißt mehrdeutig »Elephant in the Room«), die Wände eines anderen wurden so geschliffen, dass es sich anfühlt, als ob man in einem Diamanten liegen würde. Ein Zimmer ist von den 70er Jahren inspiriert, pantonartige Sitzecke und Mobile aus Eis inklusive. Es ist sehr still im Icehotel. Dumpf-still, jeder Laut erstirbt sogleich. In der Mitte jedes Zimmers steht ein Bett aus Eis, mit Rost, dünner Matratze und Rentierfellen drauf. Da schläft man dann.


Ich weiß nicht genau, warum man da freiwillig schlafen wollen würde, wenn man nicht gerade auf einer Recherchemission in Sachen Frostphobie ist. Wenn schon in der bescheuerten Kälte schlafen, dann doch wenigstens draußen, unter dem Sternenhimmel. Es gibt übrigens das Gerücht, dass Japaner glauben, ein unter einem Nordlicht gezeugtes Kind habe besonders viel Glück im Leben. Angeblich kam es deshalb schon zu ein paar unangenehmen Zusammentreffen zwischen halbnackten japanischen Paaren und Schneemobilen. Was ich nicht glaube. Weil ich nachts nicht halbnackt bin, sondern mit Polarschlafsack, Thermowäsche und Rentierfellen ausgestattet – und es trotzdem saukalt ist. Und ich liege nicht mal in einer Schneewehe, sondern in meinem windstillen Zimmer. Es ist so kalt, dass ich nur stundenweise schlafe, mein Körper ist im Alarmmodus. Wenn ich kurzzeitig einnicke, dann in einer so verkrampften Embryonalstellung, dass ich mir einen Rückennerv einklemme. Ein Problem, das nur gelöst werden kann, indem ich mich ausstrecke. Aber mich ausstrecken kann ich nicht, weil es da unten im Fußteil dieses angeblichen Polarschlafsacks so verdammt kalt ist. Kalt und ungeschützt und immer noch kälter, dann eben Schmerzen, lieber Gott, wann ist es denn endlich Morgen? Irgendwann klingelt der Wecker, und es ist schon bemerkenswert, dass man nicht mal frisch aussieht, wenn man eine Nacht bei minus fünf Grad verbracht hat. Jedenfalls muss ich zuerst mal mit dem Schneemobil in ein im Schnee vögelndes Paar Japaner reinfahren, bevor ich glaube, dass sich jemand bei diesen Temperaturen freiwillig paart.
Sauna like a Swede
Schneemobil muss ich natürlich auch fahren. Mich ließ schon die Vorstellung panisch werden, mit so einem Gerät bei minus achtzehn Grad durch die windige Nacht zu schießen. Deshalb trage ich: eine Strumpfhose, ein Paar Thermoleggings, eine Jogginghose; obenrum ein Unterleibchen, ein Merinoshirt, einen Kaschmirpullover, eine Fleecejacke und noch eine Fleecejacke drüber. Und das alles unter einem Skianzug. Mein Gesicht tut dennoch weh und fühlt sich trotz Sturmmaske an wie geschält. Was aber wettgemacht wird durch die Freude, mit sechzig Stundenkilometern über einen gefrorenen Fluss zu brettern und im Wald einer Elchin mit Babyelch gegenüberzustehen. Die Elche nehmen nämlich den Schneemobilmotor nicht als menschliches Geräusch wahr, flüchten also nicht, sondern bleiben stehen und schauen interessiert. Was natürlich auch bedeutet, dass man sie dann sehr leicht abknallen kann. Es ist zwar verboten, einen Elch vom Schneemobil aus abzuknallen, aber man kann ja den Motor laufen lassen und absteigen zum Abknallen. Machen hier auch manche. Aber zuerst gehen sie in die Sauna. Das Erste, was in einem Dorf in Schwedisch Lappland gebaut wird, ist die Sauna, sagt man. Sie ist das Zentrum der Gemeinschaft, der Familie. Hier wurden früher Kinder geboren und Tote aufgebahrt. Frieda, eine stämmige, fröhliche junge Frau, die ihre Lebensentscheidungen einzig aufgrund der Frage »Ist es ein Abenteuer?« fällt, ist die Saunameisterin. Sie findet es lustig, dass ich die Nacht bei minus fünf Grad kalt fand. Vor ein paar Tagen habe sie bei minus dreißig Grad draußen übernachtet. Mit einem Freund, einfach so, um mal zu sehen, wie das ist. Und, wie ist es? »Toll! Wunderschön!« Sie empfängt uns im »Homestead«, einem 1768 gebauten Holzhaus, in dem abends Restaurantbetrieb ist und tagsüber der Saunalehrgang »Sauna like a Swede«. Die Sauna ist nicht irgendwo, sondern mitten im Restaurant, zwischen den Tischen sozusagen. Eine Sauna hat in Lappland nichts mit Wellness-Heititeiti, Orchideenblüten und Kerzchen zu tun. Frieda trägt ihre Sorel-Stiefel und ein Truckercap, als sie mich anweist, mich zuerst gründlich mit Teerseife zu waschen, denn »in die Sauna kommt man sauber, sonst kriegt der Saunageist schlechte Laune«. Um ihn wohlgesonnen zu stimmen, wird am Anfang auch ein Liedchen gesungen. Es klingt wie ein Sauflied und besteht inhaltlich aus »Lass uns Sauna machen, lass uns Sauna machen und fröhlich und ehrlich sein«. Denn in der Sauna ist man ehrlich miteinander. Ehrlich, nackt und rein.
Sauna kann ich. Das simple Vergnügen, mich auszustrecken, langzumachen, schutzlos hinzulegen, zu öffnen. Den Quatsch, nach der Sauna kalt zu duschen, mache ich zu Hause mit meiner Kälteneurose natürlich nicht mit. Mit kaltem Wasser meine ich jede Art von Wasser, das nicht heiß ist. Im Sommer brauche ich zehn Minuten, bis ich im 24 Grad »warmen« Pool bin. Sobald das Wasser meinen Bauchnabel erreicht hat, muss ich eine Weile »hfff-hfff-hfff« machen und wimmern, bevor ich mich mit Todesverachtung hineinstürze.
Und dann ein Schneeengel
Klar, dass ich mir fast in die Hosen scheiße, die ich nicht anhabe, als es darum geht, mich nach der Sauna in den Schnee zu legen. Ich erwarte irgendwelche Anweisungen von Frieda. Warnungen im Sinne von: »Leg dich ja nicht vorwärts in den Schnee, sonst kühlt dein Herz zu schnell ab und pumpt kaltes Blut durch deinen Körper und dein Kreislauf bricht zusammen und du stirbst« oder: »Nimm zuerst ein Stück Schnee in den Mund«. Keine Ahnung was Letzteres wirklich bringen würde, aber irgendwelche Ratschläge will ich von ihr. Irgendwas, das dem Ernst der Lage Rechnung trägt. Aber sie grinst nur und sagt: »Geh einfach in den Schnee und versuch, ruhig zu bleiben, du schaffst das schon!« Und irgendwie schaffe ich es. Ich will mich vor Frieda nicht blamieren und lege mich hin. Ich mache einen Engel. Ich versuche, ruhig zu bleiben. Ich versuche, zu spüren, wie es sich anfühlt. Und plötzlich bin ich wieder in der Sauna. Ich habe nichts gefühlt und nichts gedacht, irgendwann ist mein Körper aufgesprungen und reingerannt.


Als Nächstes muss ich mich mit Birkenzweigen auspeitschen, »um mich fit zu machen für das Eisbad«, wie Frieda grinsend sagt. Eisbad heißt: In die Eisdecke auf dem zugefrorenen Torne wurde ein Loch gemacht, und da muss ich rein. Aber nicht: Sauna, hopp ins kalte Wasser, hopp wieder raus. Das Loch liegt gute fünfzig Meter vom Haus entfernt. Nachdem ich in Bademantel und Frotteemütze hinuntergestapft bin, ist die Saunawärme verflogen. Ich schlottere, während Schneeflocken um mich herumtanzen. »Das ist tatsächlich weniger schlimm als der Schneeengel«, sagt Frieda aufmunternd, »denn Schnee ist gefroren und das Wasser nicht. Also ist es ein bisschen wärmer, verstehst du?« Ich verstehe schon, aber rein gehe ich da auf gar keinen Fall. Wieder übernimmt mein Körper: Ich schaue entsetzt zu, wie er auf die mit Reif bedeckte Leiter klettert und eine Stufe nach der anderen runtersteigt, bis ich bis zum Hals in dem verdammten Fluss bin, zweihundert Kilometer nördlich des Polarkreises. Ich denke irgendwas mit »weiches Wasser«. Und schon ist mein Körper wieder hochgeklettert.
Die Kälte bezwungen
Es ist wahrscheinlich wie beim Kinderkriegen: Es war schlimm, aber nachher erinnert man sich nicht mehr. Sobald ich draußen bin, habe ich keine Vorstellung mehr davon, wie es sich anfühlt, in einem Eisloch zu baden. Aber ich bin stolz. Euphorisch. Endorphingeflutet. Und ich spüre nichts mehr. Ich kann mich nass und blitzeblankenackt in den Schneewind stellen, mein Körper ist abgemeldet. Im Off-Modus. Mir ist weder kalt noch warm, das da unten ist nur noch ein wesenlos funktionierendes Gerät. Es trägt mich wieder zur Hütte und in eine Wanne voll mit wonnig warmem Wasser auf der Terrasse. Diese Wanne ist das Glück auf Erden. Auch wenn ich die Kälte bezwungen habe – Freunde werden wir keine mehr.
Am nächsten Morgen herrschen tatsächlich minus 29 Grad. Die Nasenhaare gefrieren zu fiesen kleinen Nadeln. Das Gesicht lässt sich nicht mehr richtig bewegen. Die Zähne tun weh. Die Augen tränen. Der Körper fährt auf Minimalversorgung runter, drosselt die Blutversorgung von Entbehrlichem: Finger und Zehen verabschieden sich dann mal.
Ich hasse die Kälte noch immer. Aber als das Flugzeug auf der schneebedeckten Piste zum Abflug anrollt (man tut hier nicht mal mehr so, als würde man die Startbahn räumen), denke ich, dass es schon schade wäre, wenn es solche absurden, menschenfeindlichen Orte irgendwann nicht mehr gäbe. Klimawandel und so. Nächstes Mal komme ich mit dem Zug.
Dieser Text ist in der Ausgabe 03/16 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.