Die Netflix-Serie "Sex Education" hat einen kleinen Hype ausgelöst. 40 Millionen Menschen haben sie nach offiziellen Angaben des Streaminganbieters bereits gesehen – sie fühlen und leiden in der ersten Staffel mit Hauptcharakter Otis, Teenie-Sohn einer Sex-Therapeutin, der anfängt, seine Mitschüler in pubertären und gar nicht so pubertären Koitus-Fragen zu beraten.
Bemerkenswert ist an der Serie, dass der fiktive Charakter Otis Probleme bespricht, die viele von uns in der Realität wirklich haben. "'Sex Education' ist die Serie, die ich mir in der Schulzeit gewünscht hätte", schrieb beispielsweise ein Kollege von bento über die Netflix-Produktion. Von vorgetäuschten Höhepunkten, auch bei Männern, bis hin zur übermäßigen Masturbation ist fast alles dabei. "Statt zwei Menschen zu zeigen, die sich im Schneckentempo auf ein kuscheliges Bett fallen lassen, beweist "Sex Education", wie Sex auch sein kann: Mal schnell, mal langsam, gelegentlich ruppig, dann wieder zärtlich, oft ungelenk und mindestens genauso häufig verdammt lustig", fasste stern-Kollegin Luisa Schwebel in ihrer Kritik die Serie zusammen. Ihr Fazit: "Endlich mal Sex, wie wir ihn aus dem echten Leben kennen!"
Weshalb sich uns eine Frage aufdrängt: Sex-Nachhilfe von fiktiven Teenies – das haben wir doch gar nicht nötig. Oder?

Wir haben bei einer Expertin nachgehakt: Anja Drews ist Sexualtherapeutin und lebt und arbeitet in Hamburg. Sie ist großer Fan von "Sex Education", weil "da so ungezwungen mit dem Thema Sex umgegangen wird." Im Interview spricht sie über unsere verklemmte Generation, die große Lustlosigkeit und einen entscheidenden Fehler, den wir alle im Bezug auf Sex machen.
Frau Drews, in der allgemeinen Wahrnehmung haben Menschen zwischen 20 und 35 keine Probleme mit Sex. Wir sind raus aus der Pubertät und zu jung für Erektionsstörungen. Stimmt das?
Zu mir in die Praxis kommen tatsächlich sehr viele Menschen zwischen 25 und 35. Für diese jungen Menschen ist Sex schwierig, weil sie häufig zu viele Vorgaben im Kopf darüber haben, was sie leisten müssen. Viele Frauen machen dann im Bett Dinge, die sie gar nicht möchten, weil sie glauben, dass es von ihnen erwartet wird. Ich kenne Beispiele von Frauen, die sagen: "Ich ertrage das nur für ihn." Aber auch für das andere Geschlecht ist unter Druck: Zu mir kommen Männer, die felsenfest davon überzeugt sind, dass sie 30 Minuten penetrieren können müssen. Wissen Sie, wie lang 30 Minuten sind? Das ist wirklich lang. Diese Männer denken: Frauen erwarten das ja! Aber wenn Frauen das erwarten, dann nur, weil sie unter Umständen ein falsches Bild im Kopf haben. Wenn man sich wirklich mal fragen würde: Ist es das, was ich beim Sex will? Dreimal die Woche eine halbe Stunde penetriert werden? Das kann es doch nicht sein. Guter Sex hängt nicht vom Penis ab – und auch nicht von der Zeit, in der der Penis in der Vagina ist, bis jemand einen Orgasmus hat.
Sie sagen, wir haben ein falsches Bild von Sex im Kopf. Wie sieht das aus?
Wir leben in einer Welt, in der der Blick auf Sex sehr reglementiert ist. Viele verbinden Sex direkt mit Geschlechtsverkehr. Das ist etwas, das sich durch Hollywoodfilme oder auch durch Pornos in den Köpfen verankert hat. Wenn es um Sex geht, steht immer der Geschlechtsverkehr im Mittelpunkt. Wenn der nicht stattgefunden hat, sprechen wir nicht von "Sex". Dabei können Menschen ja auch ohne Geschlechtsverkehr Orgasmen ohne Ende erleben. Nur wird das anscheinend nicht als Sex definiert. Diese Beschränkung führt dann zu Lustlosigkeit: 80 Prozent der Paare, die zu mir kommen, haben genau dieses Problem. Das verteilt sich 50:50 auf Männer und Frauen. Und gerade bei den jüngeren Menschen ist eben häufig dieses eingeschränkte Bild von Sex der Grund. Wenn ich nie bekomme, was ich will, und immer machen muss, was ich nicht will, habe ich irgendwann keine Lust mehr. Eine Klientin von mir hat das schön auf den Punkt gebracht: "So viel Arbeit – für das bisschen Spaß am Ende." Warum sollte sich das lohnen? Viele wissen aber auch gar nicht, was sie sich sonst noch vom Sex wünschen. Im Mittelpunkt stehen immer nur Erektion, Penetration und Orgasmus.

Und davon müssen wir wegkommen?
Davon müssen wir dringend wegkommen! Das ist ein Leistungsgedanke, die Beschränkung auf einen rein mechanischen Vorgang. Wenn wir von heterosexuellem Sex sprechen, geht es immer darum: Der Penis muss in die Vagina, dabei müssen dann beide einen Orgasmus kriegen. Damit beschränken wir Sexualität rein auf die Fruchtbarkeitsdimension. Sie besteht jedoch noch aus zwei weiteren Dimensionen: Lust und Beziehung. Für die Fruchtbarkeit brauchen wir natürlich diese Art von mechanischem Sex. Das ist aber nur eine gute Methode, um schwanger zu werden, nicht um dauerhaft Spaß, Freude und Lust zu empfinden. Dafür muss unsere ganze Persönlichkeit in den Sex. Er ist mehr als Penetration und Orgasmus. Sex hat etwas mit Humor und Lebendigkeit zu tun, mit Intimität, mit Zusammensein. Die Beziehungsdimension ist daher für Sex auch sehr wichtig.
Aber haben Singles nicht mehr Sex als Menschen in einer Beziehung?
Nein. Der Löwenanteil des Geschlechtsverkehrs findet nach wie vor in Beziehungen statt. Zu mir kommen auch mehr Menschen, die in Beziehungen leben, als Singles, denn bei Alleinstehenden passiert sexuell meist gar nicht so viel. Man denkt immer Singles toben wild durch die Betten, aber das stimmt nicht. Viele Menschen verorten Sex in der Beziehung, weil sie sich dort geborgener fühlen. Natürlich gibt es auch Singles, die in Hamburg über den Kiez hüpfen und alles mitnehmen. Und ich würde mir tatsächlich wünschen, dass sich mehr Singles sexuell ausprobieren.
Wie können wir diesen Sex-Leistungsdruck in unseren Köpfen abbauen?
Sprache ist dabei ein wichtiges Thema. Wenn Menschen über Sex reden wollen, brauchen sie eine gemeinsame Sprache. Frauen sprechen oft nur von: "Das da unten." Ja, wo jetzt genau? Oder fordern: "Mach mal anders!" Und der Partner fragt sich: "Ja, aber wie denn?"
Es ist wichtig, als Paar einen Konsens zu finden: Wie rede ich über Sex? Dazu kann man zum Beispiel gemeinsam Begriffe für das weibliche und männliche Genital sammeln. Jedes Paar muss für sich herausfinden, mit welchen Begriffen es sich wohl fühlt. Und für die anschließende Kommunikation ist es wichtig, die eigenen Wünsche zu kennen und zu äußern. Denn wenn ich selbst nicht weiß, was ich möchte, kann ich das meinem Partner auch nicht erklären. Man muss dem anderen schon sagen, was man haben will. Oder es gemeinsam herausfinden.
Nur wenige können offen über Sex sprechen. Wieso sind wir so verklemmt?
Der Ursprung unserer Verklemmtheit liegt schon in der Schule. Sexualität wird nur in Bezug auf Schwangerschaft, Verhütung und sexuell übertragbare Infektionen thematisiert. Dass es auch um Lust geht, das lernen wir nicht. Das ist so prüde.
Leute sprechen von Frühsexualisierung, wenn man Kindern im Kindergarten schon beibringt, welche Sexualorgane sie haben. Dabei wäre es so wichtig zu erklären, dass man mit seinen Sexualorganen schöne Gefühle erzeugen kann. Selbst kleine Kinder haben Tendenzen, sich selbst zu befriedigen. Kinder stellen das eigentlich schon ziemlich früh fest. Sogar Babys können beim Stillen eine Erektion bekommen, weil sie dadurch ein ganzkörperliches Lustgefühl empfinden. Durch unsere christliche Welt hier ist das aber verteufelt. Wir dürfen große Lust beim Fallschirmspringen verspüren – aber nicht, wenn es um Sex geht. Das ist verpönt. Wir sprechen dann einfach gar nicht über Sex. Und nicht darüber zu sprechen, ist eine aktive Ablehnung.

Brauchen wir eine Sex-Therapie à la Otis?
Es würde zumindest vielen Menschen helfen, weil viele Sachen schief laufen. Ich bin aber auch nicht der Meinung, dass wir nur glücklich und gesund leben können, wenn wir Sex haben. Ich glaube nicht, dass erwachsene Menschen ohne Körperkontakt nicht lebensfähig sind. Wenn der Sex gut ist, ist das Leben gut? So einfach ist das nicht.
Aber guter Sex kann das Leben schöner machen!
Ja, aber dazu brauchen wir eben eine Sprache und Gespräche über Sex. Und wir müssen weg von der Penetration als das Nonplusultra. Auch andere Arten, Sex zu haben, müssen gleichwertig werden. Nichts zeigt das deutlicher, als der sogenannte "Orgasm-Gap": Frauen in heterosexuellen Beziehungen haben in der Gesamtheit deutlich weniger Orgasmen als Männer. Bei Frauen in homosexuellen Beziehungen sieht das aber ganz anders aus. Und das lässt ja eigentlich nur auf eines schließen: dass die Art, wie wir heterosexuellen Sex überwiegend praktizieren, irgendwie lückenhaft ist.
Anja Drews berät auch online unter: https://www.die-sexualitaet.de/
