Fastnacht 70 Jahre "Mainz bleibt Mainz" – wie der Karneval uns in Krisen hilft

  • von Gisela Kirschstein
Margit Sponheimer ist 82 – die Freude am Karneval hat die Mainzer Legende jung gehalten
Margit Sponheimer ist 82 – die Freude am Karneval hat die Mainzer Legende jung gehalten
© Boris Roessler / Picture Alliance
Geboren im Nachkriegsdeutschland, wurde die Mainzer Fernsehfastnacht zur großen Trösterin. Denn wenn alles wankt, dann retten Humor und Lebensfreude die Seele – bis heute. 

Die Experten waren skeptisch. "Wenn das mal gut geht", hieß es 1955 vonseiten führender Mainzer Fastnachter. Bekanntlich ist es gut gegangen: "Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht" wird in diesem Jahr 70 Jahre alt – das ist Rekord. "Was lacht und weint, der Narr vereint", heißt es in Mainz nicht ohne Grund.

Es war am 17. Februar 1955, als sich der damalige Südwestfunk erstmals in eine laufende Fastnachtssitzung in Mainz einschaltete: für die Gemeinschaftssitzung von Mainzer Carneval Verein (MCV) und Mainzer Carneval Club (MCC) hatten die beiden großen Mainzer Vereine erstmals ihre erbitterte Feindschaft begraben. Eine Stunde lang übertrug das Fernsehen live unter dem Titel "Mainz, wie es singt und lacht" die bunte Welt der Fastnacht ins Fernsehen, und trotz der Skepsis von Größen wie Seppel Glückert machte die Fernsehsitzung auf der Stelle Furore.

Bereits 1956 strahlte der SWF die Sitzung in voller Länge aus – ein Jahr später schaltete sich Österreich zu. Rund sieben Millionen Zuschauer saßen damals vor den etwa 800.000 Fernsehgeräten, "Mainz bleibt Mainz" war ein echter Straßenfeger. "Allerdings gab es damals auch nur ein Programm und in den Haushalten – wenn überhaupt – nur einen Fernsehapparat", erinnerte sich zum 50. Geburtstag der Sendung der Journalist und Fastnachtsforscher Günter Schenk schmunzeln: "Die Jungen wurden praktisch zwangsrekrutiert – und wurden später selbst zu treuen Fans der Fernsehfastnacht."

Mainzer Helden der Nachkriegszeit

Die Akteure auf der Bühne wurden zu Helden der Nachkriegszeit, und zu gefeierten Stars. Wenn Willi Scheu als "Bajazz" der Politik die Leviten las, lauschte die ganze Republik. Wenn die beiden Putzfrauen "Fraa Babbisch und Fraa Struwwelich" die Bühne enterten, blieb kein Auge im Saal trocken. 1952 erblickte das Duo in Kittelschürzen erstmals das Licht der Fastnachtsszene, 30 Jahre lang nahmen Otto Dürr und Georg Berresheim fortan die Lebenswelten der Deutschen aufs Korn – nicht ohne das Volk und sich selbst gehörig auf den Arm zu nehmen.

Und als Ernst Neger, der berühmte singende Dachdecker, im Jahr 1964 erstmals seinen neuen Hit "Humba Tätärä" zum Besten gab, verzeichnete "Mainz bleibt Mainz" mit 89 Prozent Marktanteil die höchste je gemessene Einschaltquote der Fernsehgeschichte. Negers "Humba" sorgte zugleich für die wahrscheinlich längste Überziehung im deutschen Fernsehen: Eine geschlagene Stunde lang feierte das Publikum den neuen Hit und wollte und wollte sich nicht beruhigen – im Komitee las man derweil sogar Zeitung.

Mainz
Mainzer Legenden: Ernst Neger (l.) und Willi Scheu
© SWR / Eiskop

Negers Lieder waren Gassenhauer, die Songs der Mainzer Hofsänger Volksliedgut – und sind es bis heute. Das gilt vor allem für ihr berühmtestes Lied: "So ein Tag, so wunderschön wie heute" hatte im Jahr 1955 Premiere. Geschrieben wurde der Song bereits 1954, vom ersten "Kapitän" der Hofsänger, dem legendären Jakob Treichler, und der dichtete eher wehmütig: "Schau die bunten Sterne, Am Firmament hier steh'n, Ach, ich blieb' so gerne, Doch leider muß ich geh'n: So ein Tag, so wunderschön wie heute, So ein Tag, der dürfte nie vergehn. So ein Tag, auf den man sich so freute, Und wer weiß, wann wir uns wiedersehn."

Heute erklingt "So ein Tag" landauf, landab in den Fußballstadien der Republik, und als am 9. November 1989 die Mauer in Berlin fiel, intonierte die freudentrunkene Menge: "So ein Tag, der dürfte nie vergehn". Die wehmütige Note war indes eben auch ein fester Bestandteil der Fastnacht der Nachkriegsjahre: 1950 war der erste Rosenmontagszug nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Straßen von Mainz gerollt, durch Straßen voller Trümmer und Schutt. Am 27. Februar 1945 war das "Goldene Mainz am Rhein" durch einen konzentrierten Luftangriff der Alliierten in Schutt und Asche gelegt worden, das brennende Mainz ist bis heute eine tiefe Wunde in der Seele der Stadt.

"Tränen, die man lacht, die kann man nicht weinen"

Und trotzdem brach sich die Fastnacht in der ausgebombten Stadt erneut und mit Macht Bahn – aus gutem Grund: Das bunte Spiel mit Masken und Verkleidung, mit Reimen und Narretei, es war schon immer auch der große Tröster der Menschen, Nach Trauer, Leid und Zerstörung, war es die Fastnacht, die Freude, Hoffnung und Zuversicht zurück in die Herzen brachte. "Tränen, die man lacht, die kann man nicht weinen", sagt ein altes Mainzer Sprichwort.

Das kulminierte wie in einem Brennglas im Jahr 1952, als Ernst Neger auf einer Fastnachtsbühne ein Lied sang, das 1929 der Fastnachter Martin Mundo verfasst hatte. Es basierte auf einem alten Kinderreim: "Heile, heile Gänsje, es ist bald wieder gut, es Kätzche hat en Schwänzche, es ist bald wieder gut. Heile, heile Mausespeck, in hunnerd Jahr ist alles weg."

Mainz
Aktuell wie eh und je: Bereits 2017 dominierte Trump den Karneval – dieses Jahr wird es wohl kaum anders sein
© Gisela Kirschstein

Nur hatte Negers Nachkriegsfassung inzwischen zwei zusätzliche Strophen hinzubekommen: "Wär ich einmal der Herrgott heut, dann wüsste ich nur eens: Ich nähm’ in meine Arme weit mein arm’ zertrümmert’ Meenz", sang Neger. Er traf damit tief in die Seele nicht nur von Mainz, sondern der ganzen Republik. Im Saal flossen Tränen – bis heute ist das "Heile Gänsche" die Mainzer Hymne des Trostes schlechthin. "Was lacht und weint, der Narr vereint", ist eine der wichtigsten Weisheiten der Mainzer Fastnacht, "Mainz bleibt Mainz" wurde im Nachkriegsdeutschland zur Botschafterin dieser Weisheit.

Denn im Gegensatz zum rheinischen Karneval, hatte die Fastnacht in Mainz schon immer einen politischen Hintergrund. "Die Fastnacht war bis Ende des 19. Jahrhunderts der einzige Raum, wo politische Kritik geübt wurde", weiß Schenk zu berichten. Seppel Glückert, eine Ikone der Mainzer Fastnacht, war der beste Büttenredner seiner Zeit, in den 1930er-Jahren griff er in seinen Reden die Nationalsozialisten auch dann noch an, als das längst gefährlich war.

Das freie Narrenwort

Die Tradition, den Mächtigen den Spiegel vorzuhalten und kritisch mit ihnen ins Gericht zu gehen, in Mainz ist das bis heute heilig. Symbolfiguren wie der "Till" oder der "Bajazz" halten bis heute der Gesellschaft den Spiegel vor, ein Redner wie Jürgen Dietz wurde mit seinem "Boten vom Bundestag damit sogar zur Legende. Das ist oft ernst und kommt zuweilen gar moralisch daher: "Solange wir lesen die Leviten, darf niemand uns den Mund verbieten", wird denn auch der heutige "Till", Florian Sitte, in der Jubiläumssendung am Freitag in den Saal rufen, und die Narren darauf vereidigen, Freiheit und Demokratie zu verteidigen.

Die Fastnacht, sie gilt in Mainz nicht nur als Bollwerk gegen "Mucker und Philister" – also Miesepeter, Stimmungskiller und Nörgler –, sondern auch gegen Willkür, Diktatur und Angriffe gegen die Demokratie. "Wenn wir Fastnacht ernst nehmen, sind das jetzt die Zeiten, wo man einem Agitator das lachende Narrengesicht entgegen halten muss", sagte etwa 2022 Dirk Loomans, Präsident des Karneval Clubs Kastel, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Loomans verteidigte damit, dass die Mainzer trotz des Überfalls ihre Fastnacht nicht absagten. Den Narrenmund im Angesicht von Unrecht und Unterdrückung halten? Niemals.

Die Mainzer Fastnacht stammt aus der Zeit der französischen Besatzung unter Napoleon, "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" sind auch das Fundament der Fastnacht in Mainz. Bis heute tragen die Garden der Mainzer Fastnacht Kokaden nach Franzosenart an ihren Mützen, und es ist kein Zufall, dass über den Rednern bei "Mainz bleibt Mainz" die Narrenkappe schwebt – sie ist das Symbol der freien Rede. Hier, wo einst Carl Zuckmeyer die "Völkermühle Europas" feierte, verankert das Narrentreiben die Menschen fest in der Tradition der politischen Satire und der freien Rede von "Volkes Mund". Das sind die Mainzer Markenzeichen, und sie schaffen ein Ventil für Ungerechtigkeiten und Empörung über die Machenschaft der Mächtigen.

Mainz
Schweres Gerät: Die Kameras von 1963 sind längst Geschichte – "Mainz bleibt Mainz" gibt es immer noch
© SWR

"Die Sendung steht für freie, selbstbewusste Rede, und zugleich für Spaß, Freude, gute Laune", sagt auch Günther Dudek, seit vielen Jahren verantwortlicher Redakteur für "Mainz bleibt Mainz" beim SWR. Die Fernsehsitzung sei einfach einmalig in ihrer "Verbindung aus Rede, Musik, Tanz und immer mehr aus schauspielerischen Elementen – und sie wurde zur Blaupause, zum Vorbild, nach dem sich alle anderen Fernsehsitzungen ausgerichtet haben. Es ging und gehe "eben nicht nur darum, zu unterhalten, sondern auch Botschaften und Werte zu vermitteln", sagt Dudek, "ich glaube, das ist mit das Besondere an 'Mainz bleibt Mainz'."

Seit 70 Jahren ein Millionenpublikum

Bis heute schalten zwischen vier und sechs Millionen Menschen jedes Jahr bei "Mainz bleibt Mainz" am Fastnachtsfreitag ein. Bis heute ist es in vielen Familien Kult, sich mit Würstchen und Bier vor dem Fernseher zu versammeln. "Es war über so viele Jahrzehnte beispielgebend, dass alle etwas damit verbinden", sagt Dudek: "'Mainz bleibt Mainz' steht auch für die Aktualität, die es Jahr für Jahr zu besprechen gibt."

Das liegt, glaubt Dudek, auch an den Ritualen der Fernsehfastnacht, den immer wiederkehrenden Elementen. "Es gibt einige Bausteine, die nicht verhandelbar und veränderbar sind", sagt er: Dazu gehört der Einmarsch der Mainzer Garden, die seit der Zeit Napoleons Persiflagen auf Militär und Krieg sind und als Verteidiger des Humors gelten. Da ist der Protokoller am Beginn der Sitzung, gefolgt von Kokolores-Rednern, Gesang und dem unvermeidlichen Ballett, beobachtet vom Komitee.

Bis heute findet "Mainz bleibt Mainz" immer am Fastnachtsfreitag statt, die Sendung wird immer live gesendet und kommt aus dem Kurfürstlichen Schloss zu Mainz – und am Ende singen die Mainzer Hofsänger. Zwei Mal, im Jahr 1963 und 2008 fand die Sitzung ohne den berühmten Männerchor statt, "für die Mainzer war das Gotteslästerung", weiß Schenk. Ein Finale ohne das berühmte "Sassa" oder "Olé Fiesta" – undenkbar. Und das vielleicht berühmteste aller Fastnachtslieder, jenes legendäre "Am Rosenmontag bin ich geboren."

1969 sang Margit Sponheimer das von Charly Nissen geschriebene Lied erstmals in der Fernsehsitzung "Mainz bleibt Mainz" – "Es Margittche" wurde zu einer Ikone der Nachkriegsrepublik. 1964 hatte sie ihren ersten Auftritt bei "Mainz bleibt Mainz" an der Seite von Ernst Neger gehabt, als erste Sängerin auf einer Fastnachtsbühne überhaupt.

Als "die Margit" 1965 auf der Bühne der Fernsehsitzung "Gell, du hast mich gelle gern" anstimmte, war das Lied eine Sensation: An Rosenmontag, drei Tage später, waren bereits 20.000 Exemplare verkauft. Bis heute ist Margit Sponheimer in Mainz eine Legende, 2018 wurde sie Ehrenbürgerin der Stadt. "Wenn Margit singt, dann gibt sie Vollgas, ist außer Rand und Band, wenn Margit singt, dann herrscht in Mainz Ausnahmezustand", heiß es in einem modernen Mainzer Fastnachtslied – geschrieben hat es der Enkel des singenden Dachdeckers von einst: Thomas Neger. Die Magie des Margittschen Rosenmontags – dieses Jahr kann man sie im Fernsehen noch einmal live bestaunen.

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