Bevor der Sitzbügel nach unten schwingt, habe ich schon fünf Schrauben auf der Gefühlsachterbahn gedreht. Die Anspannung kämpft gegen Vorfreude. Spaß ringt mit der Angst. Bekannte Warteschlangenemotionen, an die sich existenzielle Fragen anschließen: Welche physischen Belastungen hält mein Körper aus? Sind Rasenmäher nicht viel gefährlicher als Freizeitparks? Und was isst man eigentlich, ehe man mit 105 Grad Neigung in einen Looping katapultiert wird, insgesamt siebenmal auf dem Kopf steht und sich 2,2 Sekunden am Stück schwerelos fühlen soll?
Morgens beim Bäcker fiel die Wahl auf einen Amerikaner. Genug Zucker für das hohe Stresslevel. Zu wenig Glasur, um pappsatt in der Kurve zu liegen. Mal sehen.
Vor hunderten Jahren genügte es ein paar Russen noch, Holzrampen zu bauen und damit künstliche Schlittenberge hinunterzurutschen. Es war die Geburtsstunde der Achterbahn. Heute stürzen Positivverrückte sich auf Stahlmonstern in senkrechte Fälle und verschraubte Steilkurven. Wenn der Europa-Park Rust, größter Vergnügungspark im deutschsprachigen Raum, jetzt also seine neueste Attraktion namens "Voltron Nevera" vorstellt, die Bahn mit dem steilsten Start und den meisten Inversionen der Welt – dann sind das nicht nur gut zu verkaufende Superlative im Freizeitgeschäft, dann ist das auch irgendwie ein soziales Happening für eine Gesellschaft in Nervenkitzel-Manie.
Der Europa-Park: das Gravitationszentrum des Wahnsinns
Knapp 400 Gäste sind zur großen Achterbahnpremiere geladen. Man schlängelt sich vorbei an einem holländischen Youtuber, der wild herumfuchtelnd in die Kamera schreit: "WELKOM IN EUROPAPARK!"; vorbei an Schweizer Reportern, die sich Actionkameras an ihre Hände binden; vorbei an mutmaßlichen Rollercoaster-Bloggern, die schon das erste Bier entkorkt haben; und vorbei an einem Mann, der in dieser adrenalingeladenen Szenerie irgendwie deplatziert wirkt. Blaues Hemd, dunkler Mantel, glänzende Uhr, ein Cappuccino in der Hand. Einmal müsse man "das Ding" schon fahren, sagt er seiner Begleitung, nur fünf-, sechsmal müsse nun auch nicht sein, was nun wirklich eine überraschende Aussage ist, denn er höchstpersönlich wird "das Ding" später mit einem gigantischen Schlüssel eröffnen, er ist quasi der Herr "des Dings", der Patriarch des familiengeführten Europa-Parks: Roland Mack.
Sein Schlaraffenland ist ja stets auch ein Gravitationszentrum der Folklore gewesen. Ende April kommt Hansi Hinterseer. Dieter Bohlen castet hier gerade Deutschlands zukünftige Superstars und Dschungelcamp-Teilnehmer. Der Park fächert sich auf in länderspezifische Themenbereiche. Was gutgläubige Politiker forderten, als die Krim noch Urlaubsziel und kein Aufmarschgebiet für Putin war – ein europäisches Haus von Lissabon bis Wladiwostok – ist hier Realität.
Schultern im Bügel, Frühstück an der Magenwand
Im neu entworfenen Kroatien liegen die Schienen von "Voltron" da wie ein verzwirbeltes Handyladekabel. Dazwischen Oliven- und Lavendelbäume, ein nachgebauter Kirchturm der Stadt Novigrad. Nur das Wetter ist mehr deutsch denn mediterran, nicht sehr einweihungswürdig. Regen prasselt auf einen dem Dialekt nach zu urteilen sehr schweizerischen Pfarrer, der der irdischen Freude jetzt seinen überirdischen Segen geben soll. Im Looping, scherzt er, sei man dem Himmel ja ohnehin so nah, haha. Ein letztes dahinklarinettiertes "Oh when the saints go marching in” – dann dürfen die Gäste in die Warteschlange des "Voltron" marschieren.
Gedächtnisprotokoll zweier revolutionärer Achterbahnminuten: Blitzstart in den Looping, dann spiralförmig um die eigene Achse, linksrum, rechtsrum, plötzlich hängen die Schultern im Bügel, der Kopf zeigt Richtung Boden, das Frühstück klopft an die Magenwand, sekundenlang, im Vollspeed weiter, bremsen, Richtungswechsel auf einer Drehscheibe, rückwärts hoch in einen Steilhang, noch ein paar Schrauben, fertig, geschafft, erleichtert (glücklicherweise nur mental).
Wenig später ein kurzes Treffen mit Patrick Marx, dem Verursacher des noch immer andauernden Schädelbrummens. Der 34-Jährige im braunen Kapuzenpulli hat "Voltron" federführend entwickelt, fünf Jahre und 38 Layout-Entwürfe lang. Ein guter Mann also, um nach überstandener Testfahrt die Warteschlangenfragen zu stellen.
Herr Marx, welche physischen Belastungen hält mein Körper aus? "Wir versuchen, nie über Kräfte von 4g zu kommen, also das Vierfache des Gewichts. Technisch gesehen könnten wir das schon machen. Aber für den Körper wird es dann unangenehm."
Ist Rasenmähen gefährlicher als Achterbahnfahren? "Kann man so sagen. Draußen spielt das normale Leben. Aber in der Bahn haben wir alles unter Kontrolle. Wir wissen, wo der Gast ist. Wir haben eine Dreifachsicherung im Bügel. Wir haben alles mit Sensoren gesichert."
Was isst man vor einem 105-Grad-Start in den Looping? "Optimal ist ein halbvoller Magen."
Beim Entwickler der Achterbahnen kribbelts nicht mehr
Mit drei Jahren sei er seine erste Achterbahn gefahren, erzählt Marx. Urlaube in Freizeitparks habe bald er geplant, nicht die Eltern. Und während Kommilitonen aus dem Ingenieursstudium heute wahrscheinlich Brücken und Tunnel planen, konzipiert er Achterbahnen für den Europa-Park, reist um die Welt, testet Marktneuigkeiten aus.
Wie oft behaupten Menschen, ihr Leben sei eine Achterbahn? Bei Patrick Marx trifft es auch wirklich zur. Es gibt da nur ein Problem: "Wenn ich selbst irgendeine Bahn sehe, analysiere ich sie schon so sehr ins Detail, dass mich kaum mehr Dinge überraschen." Seine eigene neueste Errungenschaft nennt er zwar eine "Emotionsmaschine" – nur gilt das eben ausschließlich für die anderen Fahrgäste. "Ich weiß ja genau, was in welchem Eck passiert."
Es klingt fast schon tragisch: Dem Mann, der Achterbahnen entwickelt, ist das ureigenste Achterbahngefühl abhandengekommen – das Kribbeln beim Anstehen.
Transparenzhinweis: Die Reise erfolgte mit Unterstützung des Europa-Parks.