Sessen K. versucht vergeblich, sich unsichtbar zu machen. Sie sitzt zusammengekauert neben ihrer Anwältin Martina Kohler, den pinkfarbenen Rollkragenpulli bis zur Nase hochgezogen, die Hand schützend vor dem Gesicht. Nahezu regungslos hört die 17-Jährige zu, wie Richter Jürgen Hettich begründet, wieso auch sie wegen Mordes verurteilt wird. Sie, die doch nach ihrer eigenen Schilderung weinend abseits gestanden hat, während ihr Freund Deniz und sein Kumpel Roman das Opfer Yvan S. auf einer Streuobstwiese in Rommelshausen erschlagen haben. Sie, die sich während des gesamten Prozesses Mühe gibt, als naives Mädchen zu erscheinen, das unwissend in etwas hineinrutschte, was es bis heute selbst nicht richtig versteht. Mehr Opfer als Täterin. Aber diese Rolle nimmt ihr das Gericht nicht ab.
Neun Jahre Jugendstrafe, verkündet Richter Hettich knapp, nur ein Jahr weniger als die beiden Haupttäter erhalten. "Ihre Beteiligung war erheblich", so der Richter. Denn hätte die hübsche Sessen das spätere Opfer nicht aus dem Haus gelockt, hätte der Mord nicht stattfinden können. Sessen K. wirkt, als friere sie, sie kriecht in ihren Pullover hinein. Hin und wieder wirft sie einen unsicheren Blick auf ihre Eltern, die neben der Anwältin sitzen. Als das Strafmaß verkündet wird, schlägt die Mutter die Hände vors Gesicht. Der Vater lehnt sich zurück und folgt der Urteilsbegründung mit starrem Blick.
"Sessen hat vielfach gelogen"
Richter Hettich zeichnet das Bild von abgebrühten Jugendlichen. Lediglich der Hauptangeklagte Deniz habe sich nicht widersprochen. Die anderen drei hätten nur zugegeben, was nicht mehr zu leugnen war. Ihre Aussagen seien "von Teilgeständnissen und Schutzbehauptungen geprägt" gewesen. Deniz habe Yvan aufgrund "krankhafter Eifersucht" töten wollen und seinen Freund Roman etwa eine Woche vorher in den Plan eingeweiht. Sessen sei mindestens einen Tag vor der Tat im Bilde gewesen, denn bereits da habe sie versucht, Yvan S.r anzurufen. Auch der Baseballschläger der beiden Männer habe ihr deutlich machen müssen, "dass es nicht nur ums Schlagen, sondern ums Totschlagen geht". Sessen hat vor Gericht keinen guten Eindruck hinterlassen, daran lässt Richter Hettich keinen Zweifel. "Sie hat in diesem Verfahren vielfach gelogen."
Mit einer Erklärung der Tat jenseits juristischer Begrifflichkeiten tut sich das Gericht auch nach vielen Verhandlungstagen schwer. "Man fragt sich natürlich, was die Ursachen dieser schrecklichen Tat waren", hebt Hettich nach der Urteilsbegründung an und atmet tief durch. Er macht keinen Hehl daraus, dass diese Frage das Gericht ratlos gelassen hat. "Wir hoffen, dass dies ein extremer Ausnahmefall ist und nicht bedeutet, dass wir keinen Zugang mehr zu unserer Jugend haben."
Auch die Sachverständigen hätten diese Frage nach dem Warum nicht befriedigend beantworten können. Die Angeklagten seien allerdings keine "Monster", sondern "schwer durchschaubare junge Persönlichkeiten." Die "chaotische Beziehung" zwischen Deniz und Sessen "voller Streit, Schlägen und Trennungsversuchen" habe sich zu einer "unheilvollen Symbiose" entwickelt. Die damals 16-jährige Sessen K. will Hettich weder als Dreh- und Angelpunkt noch als Opfer sehen, "sondern irgendwo dazwischen".
Jedenfalls sei sie eine "berechnende Mittäterin des Mordes" gewesen. Ihren Behauptungen, von dem Mordplan nichts gewusst zu haben, schenkt das Gericht keinen Glauben. Sie habe sogar bewusst eine Auswahl getroffen, indem sie Deniz die Namen vermeintlicher Exfreunde nannte.
Die eigentliche Strafe kommt erst noch
Allen Beteiligten bescheinigt das Gericht eine Reifeverzögerung, die bei dem 18-jährigen Deniz und seinem Kumpel Roman zur Anwendung des Jugendstrafrechts führt. Deniz wird obendrein in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Der vierte Angeklagte Kajeta M., 23, der beim Zerteilen des Opfers half, wurde wegen Strafvereitelung zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. "Jugendstrafrecht ist übrigens keine Kuscheljustiz", verteidigte sich Richter Hettich in Richtung derer, die im Vorfeld des Verfahrens eine Verschärfung gefordert hatten. Zudem würden die Angeklagten vielleicht erst viel später bemerken, dass die eigentliche Strafe noch kommt: "Wenn ihnen klar wird, was sie getan haben und sie das mit ihrem eigenen Gewissen klären müssen."
Zumindest die 17-jährige Sessen scheint eine Ahnung davon zu haben. Stark zitternd wird sie aus dem Saal geführt, Martina Kohler folgt ihr. Die Anwältin legt dem Mädchen die Hand auf die Schulter und bittet sie um einen letzten Blick zu ihren Eltern. Die Mutter wirft ihr einen Handkuss zu. Nach ihrer Tochter huschen auch die Eltern gebückt aus dem Saal. Pierre S., der Vater des Mordopfers, hingegen will sich nicht verstecken. Als die Angeklagten gegangen sind, wartet er, bis die Fernsehreporter wieder in den Gerichtssaal dürfen. "Diese Bastarde haben noch ihr ganzes Leben vor sich", sagt Pierre S. in die Kameras. "Unser Sohn ist in der Ewigkeit."