Es ist kurz vor 6 Uhr, ein schwarz vermummtes Sondereinsatzkommando bringt sich vor einem Mehrparteienhaus in Düsseldorf in Stellung. Noch ist es dunkel, die Straßen menschenleer, nur das Gezwitscher der Vögel ist zu hören. Doch plötzlich durchbricht ein Knall die Stille. Eine Tür wird gesprengt, Fenster zerbrechen – und Polizisten dringen in eine Wohnung im Mehrparteienhaus ein. So ist es auf Videoaufnahmen von stern und RTL zu sehen.
Am Mittwochmorgen fand eine Großrazzia an 25 Einsatzorten gegen mutmaßliche Mitglieder eines kurdischen Schleusernetzwerks statt. Koordiniert wurde der Einsatz von Europol, die deutsche Bundespolizei, das Landeskriminalamt Osnabrück sowie die belgischen und französischen Polizeibehörden waren beteiligt. Der Schwerpunkt der Operation lag in Deutschland auf Nordrhein-Westfalen, weitere Razzien fanden in Bayern, Hessen und Schleswig-Holstein statt. Weitere Razzien gab es in Belgien und Frankreich.
Ermittlungen gegen Schleuser starteten vor eineinhalb Jahren
Seit August 2022 ermittelten die Behörden gegen das in Deutschland ansässige Netzwerk. Die Schleuser kauften, lagerten und transportierten Schlauchboote – um anschließend Migranten von der französischen Stadt Calais nach Großbritannien zu schleusen. "Was wir oft sehen, ist, dass Schleuser kleine Schlauchboote zu Verfügung stellen, sie überladen und dann den Migranten befehlen, immer geradeaus zu fahren", sagt Jan Op Gen Oorth, Pressesprecher von Europol.
Die Schleusung von Migranten über kleine Boote hat seit 2019 kontinuierlich zugenommen. 2021 wurde sie zur meistgenutzten Form der illegalen Einreise von der EU nach Großbritannien. Aus diesem Grund wird im Norden Frankreichs beim Kauf bestimmter Boote und Bootsmotoren seit einigen Jahren ein Ausweis und eine Telefonnummer verlangt – eine Vorschrift, die als Maßnahme gegen die Schleusungen nach Großbritannien erlassen worden war. "Diese Netzwerke sind sehr flexibel und unternehmerisch sehr clever. Sie erkennen wahnsinnig schnell, wo man Geld verdienen kann", sagt Jan Op Gen Oorth.
Nach Informationen von Europol hatte das Schleusernetzwerk in der EU eine Monopolposition. Es agierte aus mehreren europäischen Ländern und schleuste sowohl Migranten aus Ostafrika als auch dem Nahen Osten.
Bis zu 60 Personen sitzen in einem Boot – das dafür viel zu klein ist
"Für das Leben der Migranten ist das ein sehr gefährliches Geschäft, insbesondere weil die Boote keine gute Qualität haben. Außerdem sind zu viele Menschen auf den Booten", sagt auch Ina Mihaylova, ebenfalls Pressesprecherin von Europol. Für den Transport von mehr als zehn Personen sind die verwendeten Boote weder geeignet noch sicher, in der Regel werden sie für die Fischerei oder das Befahren von Flüssen und Stadtkanälen verwendet. Doch auf dem Ärmelkanal, wo sie Migranten nach Großbritannien bringen sollen, sitzen zwischen 50 und 60 Menschen auf einem Boot. Bis zu acht Fahrten pro Nacht organisierte das Netzwerk.
Insgesamt haben die Ermittler Beweise dafür gesammelt, dass mindestens 55 Abfahrten allein durch diese Schlepperbanden ermöglicht wurden. Zwischen 1000 und 3000 Euro kostete der Platz auf dem gefährlichen Boot, Schätzungen von Europol zufolge könnte das Schleusernetzwerk in den vergangenen eineinhalb Jahren 66 Millionen Euro umgesetzt haben.
"Für uns zeigt diese Operation, dass man internationale Netzwerke nur international bekämpfen kann", sagt Jan Op Gen Oorth. Allein in Deutschland wurden 28 Personen festgenommen, sieben davon Hauptorganisatoren des Netzwerks.
In dem Mehrparteienhaus in Düsseldorf hatten die Einsatzkräfte Erfolg. Hier wurde einer der Schleuser am Mittwoch in den frühen Morgenstunden festgenommen.
Die Nachbarn kannten den Mann nicht, dessen Wohnung in den frühen Morgenstunden von dem Einsatzkommando gestürmt wurde. "Die haben mich gegrüßt und ich habe die gegrüßt, mehr nicht", sagt eine Anwohnerin gegenüber stern und RTL. Die Bewohner des Hauses waren überrascht, manche verängstigt. "Das war wirklich wie eine Bombe", sagt eine Anwohnerin über das Geräusch beim Sprengen der Eingangstür. "Wenn man sowas hört, ist das schon beängstigend", sagt ein Anwohner.
Vier Stunden nachdem die Einsatzkräfte die Wohnung stürmten, führen sie einen Mann aus dem Haus. Als er über die Türschwelle tritt, schaut er kurz nach oben, den Blick auf die Kameras der Pressevertreter geheftet. "Warum machen die Fotos von mir?", fragt er den Polizisten neben sich. "Das ist die Presse", antwortet er. "Scheiß auf die Presse", sagt er. "Das gehört zu einem demokratischen Staat dazu", sagt der Polizist und führt den Mann in den Einsatzwagen.
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