Erst ein mutiger Schüler aus der Parallelklasse brach das Schweigen. Monatelang hatten Jugendliche der Werner-von- Siemens-Berufsschule in Hildesheim stumm und tatenlos zugesehen, wie ihr 18 Jahre alter Klassenkamerad immer wieder brutal verprügelt wurde. Vier Mitschüler schlugen und misshandelten ihn - und nahmen die Gewalttaten auch noch auf Video auf.
Stumm hatte auch das Opfer alle Qualen ertragen - wohl aus panischer Angst vor seinen Peinigern. Ein Russlanddeutscher, ein Türke, ein Kasache und ein Deutscher sollen den 18-Jährigen seit vergangenem September in der Schule wiederholt grün und blau geschlagen haben. Die Filmaufnahmen davon wollten die Schläger nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft auch noch im Internet anbieten. Die Anklagebehörde ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung. Mehrere Beschuldigte gestanden die Taten.
"Bei uns passiert so etwas nicht"
Schüler, Lehrer, Eltern und Politiker in Hildesheim reagierten ungläubig und wie gelähmt auf das, was sich in ihrem engsten Umfeld zugetragen hat. Prügelrituale an Schulen, zusammengeschlagene Lehrer - das alles schien bis zum Dienstag so gar nichts mit dem Alltag in Hildesheim zu tun zu haben. Auch die Werner-von-Siemens-Schule macht einen freundlichen Eindruck: Das Gebäude ist hell und modern, keine Graffiti an den Wänden, kein zerstörtes Mobiliar. Mit Gewalt gibt es dort offenbar wenig Erfahrung. "Nur die üblichen Rangeleien", sagt Schulleiter Hans-Hermann Sölter. Und auch die meisten Schüler wollen davon nichts wissen: "Bei uns passiert so etwas nicht", sagt der 18- jährige Patrick Beeker immer noch ungläubig.
An der Schule, die einen hohen Ausländeranteil hat, werden künftige Elektro- und Metalltechniker ausgebildet. Bei der betroffenen Klasse handelt es sich um Teilnehmer eines Berufsvorbereitungsjahres. Die Jugendlichen haben meist keinen Schulabschluss und kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Zudem stammen sie oft aus schwierigen Verhältnissen.
Der verprügelte 18-Jährige wird als eher unauffällig beschrieben. "Er ist ein sehr ruhiger Schüler", sagt Schulsozialpädagogin Roswitha Fellendorf. Sie brachte die grausamen Taten ans Licht, nachdem ihr ein Schüler aus einer anderen Klasse Hinweise gegeben hatte. Die Sozialpädagogin gewann das Vertrauen des Opfers, das sich ihr schließlich offenbarte. Selbst die Eltern des 18-Jährigen ahnten nichts vom Martyrium ihres Sohnes.
Mangel an Zivilcourage
Schulleiter Sölter kann sich die schrecklichen Vorfälle nicht erklären. "Besonders verwerflich finden wir die Bestialität, mit der ein Mitschüler gepeinigt worden ist, von dem man annehmen konnte, dass er sich nicht wehren konnte." Schlimm sei auch, dass viele Klassenkameraden das Geschehen mit Schweigen toleriert hätten. "Das ist in meinen Augen einfach erbärmlich, feige und niederträchtig." Der 17 Jahre alte Schüler Florian Lütge glaubt, seinen Mitschülern habe es wohl an Zivilcourage gefehlt. "Die haben gedacht, sie kriegen selber was drauf."