Suchaktion im Atlantik Experten warnten schon lange vor Problemen mit der "Titan" – Zertifizierung fehlte ebenfalls

Das Tauchboot "Titan" der Firma Oceangate
Das Tauchboot "Titan" der Firma Oceangate
© Handout / OceanGate Expeditions / AFP
Retter suchen im Atlantik nach dem vermissten Tauchboot "Titan". Die Zeit drängt, denn der Sauerstoff wird knapp. Unterdessen wird immer mehr Kritik von Experten an der Sicherheit der "Titan" bekannt.

Seit Sonntag wird die "Titan" vermisst. Etwa eine Stunde und 45 Minuten nach Beginn des Tauchgangs zum Wrack der "Titanic" riss der Kontakt des Tauchboots zum Begleitboot ab. Seitdem wird fieberhaft nach der "Titan" gesucht – und es ist ein Rennen gegen die Zeit: Nach Schätzungen der Behörden dürfte der Sauerstoff für die fünf Vermissten nur noch bis Donnerstagmittag (MESZ) reichen. Es ist stockdunkel in den Tiefen des Atlantiks und der Wasserdruck ist hoch.

Doch nun gibt es möglicherweise ein Lebenszeichen der Insassen. Suchteams hätten am Dienstag alle 30 Minuten eine Art Klopfgeräusch in der Region registriert, in dem das Gefährt der Firma Oceangate vermutet werde, hieß es in einem internen Memo der US-Regierung, aus dem der Sender CNN und das Magazin "Rolling Stone" in der Nacht zum Mittwoch (Ortszeit) zitierten.

Die US-Küstenwache teilte später in einem Tweet mit, ein kanadisches Suchflugzeug habe "Unterwassergeräusche" gehört. Tauchroboter seien in das Gebiet geschickt worden, um den Ursprung zu erforschen – zunächst aber ohne Erfolg.

Kritik in Brief an Oceangate

Unter den Vermissten befindet sich Oceangate zufolge auch der Chef der Betreiberfirma Stockton Rush (61), der als Kapitän des Bootes fungiert habe.

Unterdessen wächst die Kritik an Oceangate. Einem Artikel der "New York Times" zufolge äußerten führende Vertreter der Tauchbootindustrie bereits vor Jahren Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der "Titan".

"Wir befürchten, dass der aktuelle experimentelle Ansatz von Oceangate zu negativen Ergebnissen führen könnte (von geringfügig bis katastrophal)", schrieben sie in einem auf 2018 datierten Brief, den die Zeitung veröffentlichte. Darin wird Oceangate irreführendes Marketing vorgeworfen. Chef Stockton Rush wurde dazu aufgerufen, die "Titan" von einer unabhängigen Partei testen zu lassen.

Das passt zum Eindruck des Reporters David Pogue vom US-Sender CBS, der die Fahrt im vergangenen Jahr mitgemacht hatte. Er sagte der BBC, das Gefährt habe auf ihn einen improvisierten Eindruck gemacht. "Man steuert dieses U-Boot mit einem Xbox-Gamecontroller", sagte Pogue. Ein Teil des Ballasts bestehe aus Baurohren. Falls das Boot eingeklemmt werde oder leckschlage, "gibt es kein Backup, keine Rettungskapsel", sagte er.

"Wir mussten blind am Boden des Ozeans herumrudern"

Der US-Drehbuchautor Mike Reiss, der das Wrack der Titanic im vergangenen Jahr mit demselben Mini-U-Boot besucht hatte, schilderte der BBC die Tour. Damals sei der Kompass sofort ausgefallen und habe sich nur noch wild gedreht, "wir mussten blind am Boden des Ozeans herumrudern". Vor Beginn der Fahrt hätten alle Teilnehmer einen Haftungsausschluss unterzeichnen müssen, in dem schon "auf der ersten Seite dreimal das Wort Tod vorkommt".

In der Zwischenzeit wurde bekannt, dass der ehemalige Leiter von Oceangate-Meereseinsätzen, David Lochridge, entlassen wurde, nachdem er Sicherheitsbedenken geäußert hatte. Lochridge arbeitete seit Mai 2015 für Oceangate, zunächst als unabhängiger Vertragspartner, dann als Leiter von Meereseinsätzen, wie aus Gerichtsdokumenten hervorgeht.

2018 verklagte Oceangate ihn wegen Verletzung von Betriebsgeheimnissen. In einer Gegenklage beschuldigte Lochridge das Unternehmen im Januar 2018, ihn gefeuert zu haben, nachdem er "kritische Sicherheitsbedenken wegen des experimentellen und ungeprüften Designs der 'Titan'" geäußert habe.

Dieses undatierte Foto zeigt das Tauchboot "Titan" von OceanGate Expeditions
Dieses undatierte Foto zeigt das Tauchboot "Titan" von OceanGate Expeditions, das zur Besichtigung der Wrackstelle der Titanic eingesetzt wurde
© American Photo Archive / DPA
Arthur Loibl tauchte vor zwei Jahren mit dem vermissten Tauchboot zur "Titanic" – so erlebte er den Trip

Rush äußerte Bedenken über "Titan" – und dann wieder nicht

Selbst Oceangate-Chef Rush äußerte Bedenken zur "Titan". In einem Podcast sagte er im vergangenen Jahr, er sorge sich, dass das Tauchboot unter Umständen nicht mehr auftauchen könne. "Was mich am meisten beunruhigt, sind Dinge, die mich daran hindern, an die Oberfläche zu kommen. Überhänge, Fischernetze, Verhedderungsgefahren."

Gleichzeitig sagte er, dass er keine großen Sicherheitsbedenken habe. "Ich denke nicht, dass es sehr gefährlich ist." Wenn man sicher sein wolle, dürfe man das Bett nicht verlassen, so Rush weiter.

Die 6,70 Meter lange und 10,4 Tonnen schwere "Titan" bietet Platz für fünf Personen und ist ein sehr einfaches Gefährt. Genau genommen handelt es sich im engen Sinne um ein Tauchboot und kein U-Boot, weil es nicht aus eigener Kraft in Häfen ein- und ausfährt. Vielmehr wird es von seinem großen Begleitschiff "Polar Prince" zu dem Ort gebracht, wo die "Titanic" liegt, und taucht dann für einige Stunden ab.

"Titan" fehlt die Zertifizierung

Brisant ist auch, dass das Tauchboot "Titan" nicht zertifiziert ist, wie Oceangate in einem Blogeintrag von 2019 erklärte. Viele Schiffe und Boote werden von unabhängigen Gruppen wie dem American Bureau of Shipping oder Lloyd's Register klassifiziert und bewertet. Diese prüfen beispielsweise, ob Vorschriften an Bord eingehalten werden oder geben Bauvorschriften heraus. Das soll den Schiffseignern Sicherheit geben.  

Nach Ansicht von Oceangate tragen die festgelegten Standards wenig dazu bei, unqualifizierte Schiffsbetreiber auszusortieren, da sich die Klassifikationsgesellschaften nur auf das physische Schiff konzentrieren, nicht aber auf Betriebsabläufe und Entscheidungsprozesse. Letztere sind in den Augen des Unternehmens "viel wichtiger, um die Risiken auf See zu reduzieren". Die wenigsten Unfälle in der Seefahrt seien auf menschliches und nicht technisches Versagen zurückzuführen. "Daher reicht es nicht aus, sich auf die Klassifizierung des Schiffes zu konzentrieren, um die betrieblichen Risiken zu reduzieren."

Oceangate erklärt die fehlende Zertifizierung auch mit seinen technischen Entwicklungen. Ziel der Firma sei, ein "Höchstmaß an Innovation" zu erreichen. "Innovation liegt per Definition außerhalb eines bereits akzeptierten Systems. Das bedeutet jedoch nicht, dass Oceangate die geltenden Normen nicht einhält, aber es bedeutet, dass Innovation oft außerhalb des bestehenden Paradigmas der Branche liegt." Oceangate kritisiert dabei, dass die Klassifizierung bei innovativen Konstruktionen mehrere Jahre dauere – oder gar nicht erst anerkannt würden, beispielsweise ein Echtzeit-Überwachungssystem.

Lob für die Besatzung des Tauchbootes

Die Klassifizierung allein reiche nicht aus, um die Sicherheit zu gewährleisten, so Oceangate. "Das liegt zum Teil daran, dass die Klassifizierung, die für einen sicheren Tauchgang unerlässlichen betrieblichen Faktoren nicht angemessen bewertet und dass die Klassifizierungsbewertungen bestenfalls jährlich durchgeführt werden."

Es ist allerdings unklar, ob seit dem Blogeintrag von 2019 die "Titan" inzwischen zertifiziert bzw. klassifiziert wurde. Im November 2022 berichtete der CBS-Reporter Pogue, dass das Tauchboot zu diesem Zeitpunkt nicht zertifiziert sei. 

Inmitten der Kritik und Sicherheitsbedenken haben ehemalige Mitreisende die Verantwortlichen an Bord des vermissten Tauchboots im Atlantik als echte Profis gewürdigt. Der Chef des "Titan"-Betreibers Oceangate Expeditions, Stockton Rush, und der französische "Titanic"-Experte Paul-Henry Nargeolet seien keine unzuverlässigen Kerle. "Das sind hochprofessionelle Leute", sagte der britische Manager Oisin Fanning, der nach eigenen Angaben mit beiden die Tour gefahren ist, dem Sender BBC Radio 4 am Mittwoch. "Sie werden vom ersten Tag an Energie gespart haben. Es würde mich also nicht wundern, wenn die Aktion viel länger andauern würde, denn sie wissen genau, was zu tun ist."

Dik Barton, der erste britische Taucher am "Titanic"-Wrack, nannte Nargeolet einen "äußerst fähigen Tauchboot-Piloten", der schon Dutzende Male die Überreste des berühmten Luxusdampfers besichtigt habe. "Ich habe gewaltigen Respekt vor ihm und seinen Fähigkeiten", sagte Barton dem britischen Sender ITV.

Gleichzeitig betonte er, der Meeresboden des Atlantiks sei ein "gefährlicher" und "feindseliger" Ort, er habe sich bei seinen Expeditionen in Gefahr gefühlt. "Es gibt ein lokales Auf und Ab des Wassers, das sich bewegt, es ist nicht gleichmäßig", sagte Barton. Die Stärke des Tauchboots sei zudem begrenzt. "Die Triebwerke sind ziemlich stark, aber letztlich muss man Energie sparen, weil es sich um das Lebenserhaltungs- sowie das Navigationssystem handelt."

Quellen: Nachrichtenagenturen DPA und AFP, Oceangate, Fox News, CBS

DPA · AFP
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