stern-Kolumne "Winnemuth" Edgar, mein Retter

  • von Meike Winnemuth
Wenn man mal ein kleines Tief hat, hilft ein Rettungsring aus der Formkrise.
Wenn man mal ein kleines Tief hat, hilft ein Rettungsring aus der Formkrise.
© Colourbox
In traurigen Zeiten sucht man in der Kneipe Trost. Und trifft mit etwas Glück Menschen, die ein Wunder sind.

Aus verschiedenen Gründen – und ich werde den Teufel tun, die hier detailliert auszubreiten – habe ich gerade eine etwas selbstmitleidige Phase. So was gehört zum Leben eines durchschnittlichen Mitteleuropäers in fortgeschrittenem Alter unbedingt dazu und ist auch nicht weiter besorgniserregend. Wie immer bei solchen Anfällen ist der größere Teil des Selbstmitleids reine Larmoyanz und ein kleinerer, aber wichtiger Teil völlig berechtigt und zudem heilsam. Manchmal wachsen einem die Dinge eben über den Kopf, und dann sollte man sich nicht auch noch selber knüppeln, sondern sagen: "Du armes Ding, wo tut es denn weh? Ich puste mal drauf, dann wird es schon wieder besser."

Gelegentlich muss man die zusammengebissenen Zähne ein wenig lockern, um sich ein paar Globuli Selbstmitgefühl und Selbstnachsicht unter die Zunge zu schieben. Ich jedenfalls ging wie die meisten selbstmitleidigen durchschnittlichen Mitteleuropäer in eine Kneipe. Die Kneipe hieß "Blanker Hans". Links an der Theke wartete meine Rettung auf mich, sie hieß Edgar und trank gerade das erste Bier.

Zwei Seiten der Selbstausdrucksmedaille

Edgar Sauerbier ist von Geburt an schwer gehbehindert, sein linkes Bein ist 15 Zentimeter kürzer als das rechte, beide Sprunggelenke sind versteift, in den Knien fehlen die Kreuzbänder. Edgar rollte das linke Hosenbein hoch und zeigte seinen kniehohen Spezialstiefel, in dem der Fuß steht wie der einer Ballerina und an dem sein Orthopäde drei Monate gebaut hat. Als er klein war, haben ihn die anderen Kinder "Klumpfuß" gerufen, was er damals mit der Erklärung beantwortete, dass das nicht stimme, weil seine Klumpfüße operativ entfernt worden seien, als er noch ein Baby war.

Meike Winnemuth

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Edgar ist inzwischen Anfang 40. Und Sportlehrer an einem Gymnasium. Sport- und Kunstlehrer, um genau zu sein, denn Sport und Kunst seien für ihn zwei Seiten einer Medaille. "Welcher Medaille?", fragte ich. "Der Möglichkeit zum Selbstausdruck und zur Selbsterfahrung", sagte er. Alles schön und gut, aber ausgerechnet Sportlehrer, wenn man selbst nur unter Mühen laufen kann? Wie geht das? Wie bringt man Schülern bei, was man selbst nicht kann? Edgar sagte: "Kinästhetische Wahrnehmung." Also: durch Körperempfinden die richtigen Bewegungen lernen.

Kraulen in der Kneipe

Und dann hat er mir dort an der Theke die korrekte Kraulschwimmtechnik beigebracht. Ich sollte mich hinstellen, die Augen schließen und mir vorstellen, dass ich auf dem Wasser liege. Er führte meinen rechten Arm gegen dessen Widerstand (denn mein Arm wollte so gern die gewohnte, falsche Kraulbewegung machen) durch das imaginäre Wasser, den Ellenbogen vorn, die Hand gerade an der Hüfte entlang. Und in dem Moment atmen, nicht etwa dann, wenn der Arm wieder oben ist. Ich habe also nachts in der Kneipe von einem hochgradig körperbehinderten Sportlehrer das Schwimmen beigebracht bekommen. Unter anderem. Denn was er mir noch beigebracht hat, ohne dass wir darüber gesprochen hätten: dass immer mehr geht, als man denkt. Als die anderen denken. Man muss nicht alles können, um andere das Richtige zu lehren. Edgar zum Beispiel zeigt seinen Schülern, wie sie eine Gasse bilden, in der ein radschlagendes Kind plötzlich Hilfestellung von ganz vielen bekommt. Da geht es dann um die wichtigen Dinge, um Vertrauen und Verantwortung.

Ich ging nach Hause, meine dunklen Wolken waren verflogen. "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch", sagt Hölderlin. Und wo Selbstmitleid ist, steht immer ein Edgar an irgendeiner Theke.

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