Es ist ein Wettrennen auf Leben und Tod. Millionen nehmen daran teil, ein einziger wird siegen. Wird sich, endlich am Ziel, mit letzter Kraft Zutritt verschaffen und auf wundersame Weise verschmelzen mit diesem riesigen runden Ding, aus dem dann ein neuer Mensch entsteht. Und weil das ein großer Augenblick ist, sicher der größte im kurzen Leben eines Spermiums, gibt es ein Erinnerungsfoto. Lennart Nilsson drückt den Auslöser und fixiert die Szenerie: Da liegt die Eizelle wie ein flauschiger Ball in einer Marslandschaft, dem Eileiter. Und das Spermium bäumt sich keck vor ihr auf. Nilsson schmunzelt: "Fast so, als würde das Spermium sagen: Haben wir nicht eine Verabredung?"
Lennart Nilsson hat viele Rendezvous dieser Art beobachtet. Er ist der Fotograf verborgener Welten - ein Bilderschöpfer, der den Blick auf den Menschen verändert hat wie kaum ein Zweiter. Der 81-jährige Schwede arbeitet am berühmten Karolinska-Institut von Stockholm, dort, wo Nobelpreisträger bestimmt werden. Sein Buch "Ein Kind entsteht" ist inzwischen in mehr als 20 Sprachen übersetzt und weltweit über 50 Millionen Mal verkauft worden.
Bilder aus dem Bauch
Seit dem 18. September ist der neu überarbeitete Bestseller "Ein Kind entsteht" von Lennart Nilsson und Lars Hamberger auf dem Markt (24, 90 Euro; Mosaik beim Goldmann Verlag, München). Seit seiner Ersterscheinung wurde das Buch in mehr als 20 Sprachen übersetzt und weltweit über 50 Millionen Mal verkauft.
Spektakuläre Bilder
Für die vierte Auflage, die gerade herausgekommen ist, hat der Meister der Innenansichten 13 Jahre lang gearbeitet - sie zeigt spektakuläre, neue Bilder des werdenden Lebens. Tage und Nächte hat Nilsson dafür in Kliniken und vor dem Mikroskop ausgeharrt. Geduldig auf der Lauer gelegen, um einzigartige Millisekunden einzufangen. Seit der Fotograf sich vor allem unberechenbaren Zellen des menschlichen Körpers widmet, kann es Monate und Jahre dauern, bis ihn ein Bild zufrieden stellt - ein Spermium hört nicht auf Kommando. Für Nilsson gilt ganz besonders, was alle außergewöhnlichen Fotografen auszeichnet: Er ist zur Stelle, wenn die anderen schon aufgegeben haben und weg sind. "Die besten Aufnahmen sind mir nachts oder in den frühen Morgenstunden gelungen", sagt er.
Wenn es stimmt, dass die Schweden ein Volk fleißiger, bescheidener Menschen sind, dann ist Lennart Nilsson der Prototyp des Schweden. Hält der Putzfrau die Tür auf, nimmt Besuchern die schweren Koffer ab, ist verbindlich, höflich, zurückhaltend. Wer den 81-Jährigen nach seinen drei wichtigsten Eigenschaften fragt, dem antwortet er: "Ich habe Geduld, Geduld und nochmals Geduld." Nilssons Freunde und Kollegen loben auch seinen Enthusiasmus und seine Überzeugungskraft - Eigenschaften, ohne die er jene Bilder nicht zustande gebracht hätte, die ihn Mitte der 60er Jahre weltberühmt gemacht haben: die ersten Aufnahmen vom Beginn des menschlichen Lebens, vom Inneren des Mutterleibs, von Föten, die in ihren Fruchtblasen schwimmen.
Der Vater erkannte den Entdecker
Es war der Vater, der den Entdecker in Lennart Nilsson erkannt und gefördert hat: Nils Nilsson, ein Eisenbahningenieur und Tüftler in einer Stadt westlich von Stockholm, schenkte seinem elf Jahre alten Sohn die erste Kamera und etwas später ein Mikroskop. Schon damals wollte der Junge wissen, wie die Blüten eines Goldregen-Strauchs von innen aussehen, und lag selbst im Regen mit seinem Vater auf dem Bauch im Gras und fotografierte die Welt aus der Sicht von Ameisen.
Auch das besondere Faible für die Abbildung des beginnenden Lebens und das Verhältnis zwischen Mutter und Kind entwickelte sich früh. Fast scheint es, als habe nicht er sich das Thema, sondern als habe das Thema sich Nilsson gesucht: 1945 begleitete der damals 22-jährige Reportagefotograf eine Hebamme mehrere Wochen durch Lappland, im Holzvergaser-Auto, auf dem Pferd oder auf Skiern. Ungewöhnlich für die damalige Zeit: Er durfte als Mann bei den Geburten dabei sein.
Zwei Jahre später dokumentierte Nilsson die Eisbärenjagd norwegischer Fischer in Spitzbergen. Herzzerreißende Bilder entstanden: Eine Bärenmutter im Todeskampf, ein kleines Fellbündel daneben, ihr Junges. Es schlingt die Tatzen um den Hals der toten Mutter und verharrt apathisch trauernd, bis es in einen Bretterverschlag gesperrt und später an einen Zoo verkauft wird. Leben, Tod, Schöpfung und Niedergang - die Themen ließen Lennart Nilsson nicht mehr los.
Die Idee für seine berühmten Bilder aus dem Bauch kam ihm sechs Jahre nach der Lappland-Tour: Bei einem Fototermin im Krankenhaus stieß er auf mehrere in Formalin eingelegte Föten in einem Regal. Das da, diese kleinen Wesen, das war das Kapitel des Werdens, das noch niemand fotografiert hatte. Nilsson wollte es sichtbar machen. Für sich und alle Welt.
Seine Expedition in die verborgenen Welten der Embryonen und Föten dauerte Jahre, aber die Akribie wurde belohnt. Die Bilder waren verblüffend, sie konnten mehr erklären als tausend Biologiebücher, die Menschen rissen sich darum. Als das amerikanische Magazin "Life" sie 1965 als Titelstory herausbrachte, war die ganze Auflage innerhalb von drei Tagen ausverkauft, acht Millionen Exemplare. Und die Fotos gingen nicht nur um die Welt, sondern sogar darüber hinaus: 1977 starteten die amerikanischen Raumsonden Voyager I und II ins All, an Bord waren auch Nilssons Bilder als Symbol für menschliches Dasein.
Jahrelange Mühen werden belohnt
Neben grosser Beharrlichkeit bedarf es für solche Bilder einer außergewöhnlichen Technik. Zahlreiche Ingenieure halfen Nilsson, seine Ideen zu verwirklichen, unter anderem Fachleute von den deutschen Firmen Karl Storz und Carl Zeiss. Sie entwickelten für den Schweden in jahrelanger Tüftelarbeit starre und flexible Spiegelrohre, so genannte Endoskope, die er an seinen Foto- und Filmkameras anschließen kann. Hauchdünn, mit sündhaft teuren Speziallinsen für verschiedenste Brennweiten, mit enormer Tiefenschärfe und Weitwinkelblick. In Japan wurde eigens für Nilsson ein Raster-Elektronenmikroskop gefertigt, das die Motive um das 950 000fache vergrößern kann. Damit lässt er rote Blutkörperchen groß wie Pfannkuchen aussehen und HI-Viren zu Pingpongbällen anschwellen. Auch viele der Bilder aus seinem neuen Buch entstanden an jenem Mikroskop.
Einblicke in verborgenen Welten
Die Methoden, mit denen Lennart Nilsson Unsichtbares sichtbar macht.
Fetoskopie
Manchmal nutzen Ärzte diese Technik, bei der ein dünnes Sichtrohr durch die Bauchdecke der Mutter in die Fruchtblase geschoben wird, um einzelne Partien eines Fötus zu begutachten. Nilsson hatte die Möglichkeit, bei solchen Gelegenheiten Bilder zu machen.
Ultraschall
Dieses Verfahren ist in den vergangenen Jahren immer besser geworden. Während früher oft nur Experten etwas auf den Aufnahmen erkennen konnten, gibt es inzwischen in spezialisierten Kliniken Ultraschallgeräte, die klare dreidimensionale Bilder liefern. Darauf sind in späteren Phasen der Schwangerschaft sogar Gesichtszüge zu sehen.
Spezialoptik
Einige Aufnahmen wurden mit einer besonderen Weitwinkeloptik gemacht, die es ermöglicht, die ganze Fruchtblase zu zeigen. Solche Fotos gelingen nicht mit einem Ultraschallgerät oder Fetoskop (siehe links). Sie entstanden, nachdem Ärzte gezwungen waren, Bauchhöhlen- oder Eileiterschwangerschaften abzubrechen.
Mikroskopie
Lennart Nilssons Raster-Elektronenmikroskop wurde eigens für ihn in Japan hergestellt. Damit kann er Motive um das bis zu 950 000fache vergrößern. So entstanden zum Beispiel Aufnahmen von Spermien, Eizellen, vom embryonalen Herzen und Gehirn, die anschließend mit einer besonderen Technik gefärbt wurden.
Es wäre allerdings falsch, ihn nur für einen verschrobenen Techniker zu halten. Seit je hat Lennart Nilsson mit unterschiedlichen Ärzten und Wissenschaftlern zusammengearbeitet. Er hat Medizinvorlesungen besucht, weiß zum Beispiel ganz genau, welches Nährmedium die Zellen unterm Mikroskop brauchen. Lars Hamberger, Professor für Gynäkologie an der Universität Göteborg und Autor der Texte von "Ein Kind entsteht", ist nicht nur fasziniert von Nilssons Wissbegier, sondern auch von seiner Hartnäckigkeit. "Wenn wir den ganzen Tag im Krankenhaus zusammengearbeitet und wirklich viel geschafft haben, sagt Lennart am Abend: Schön, jetzt wissen wir ja, wie wir es morgen noch besser hinkriegen."
Selbst prominente Schweden konnten Nilsson nicht zur Eile treiben: Königin Silvia und König Carl Gustaf kamen bei ihrer eigenen Hochzeit zu spät zum Bankett. Herr Nilsson, Hoffotograf für drei Generationen von schwedischen Majestäten, war mit den Herrschaften noch nicht zufrieden und ließ das Brautpaar vor der Kamera nachsitzen. Bis das Bild endlich perfekt war.
Sein erstes PortrÄt eines lebenden Kindes im Mutterleib, das nur einen Teil des Gesichtes zeigt, machte Nilsson 1965 während einer so genannten Fetoskopie. Dabei steckt der Frauenarzt ein dünnes Rohr durch die Bauchdecke der Mutter in die Fruchtblase, um das Kind aus der Nähe betrachten zu können. "Diese Art der Untersuchung wird immer seltener, unter anderem deshalb, weil die Ultraschall-technik immer besser wird und klarere Bilder liefert", sagt Lars Hamberger. Die Ergebnisse der modernen Ultraschallgeräte faszinierten Lennart Nilsson derart, dass er sie in seinem neuen Buch festhielt. Statt der grobkörnigen Bilder von früher, auf denen nur Spezialisten etwas entdecken konnten, zeigen die Monitore in einigen Kliniken inzwischen deutliche dreidimensionale Abbildungen des Babys.
Auch eine traurige Arbeit
Manche von Nilssons besten Bildern allerdings zeigen keine Lebenden. Die Fotos einiger Föten, die in ihrer Fruchtblase schwimmen, entstanden, nachdem Ärzte in Krankenhäusern Bauchhöhlen- oder Eileiterschwangerschaften abgebrochen hatten. Wenn sich eine befruchtete Eizelle nicht in der Gebärmutter einnistet, sondern außerhalb heranreift und dadurch das Leben der Mutter gefährdet, muss operiert werden. In solchen Fällen kam Nilsson mit seiner Spezialausrüstung in die jeweilige Klinik und fotografierte. Jedes Mal ein trauriger Anlass - doch nur so gelangen einige der faszinierenden Bilder.
Jetzt, wo sein neues Buch fertig ist, könnte Nilsson eigentlich kürzer treten. Er könnte sich ausruhen auf den Ehrendoktorwürden, die man ihm verliehen hat. Auf seinen Preisen und Auszeichnungen für Fotos und Filme, mit denen er im Laufe seines Lebens überschüttet worden ist. Doch Ruhestand, dafür hat er keine Zeit. Der geduldige Mann ist gleichzeitig ein Getriebener. Getrieben von seinen Einfällen und Visionen, die er noch verwirklichen will, von all seinen Fragen an das Leben.
Nicht einmal in seinem Sommerhaus nahe Stockholm kann er ganz abschalten. Bei der Gartenarbeit fallen ihm immer wieder neue Projekte ein: "Wie sieht es eigentlich aus der Perspektive der Zunge aus, wenn man eine Beere isst?", dachte er einst. Und: Kann man einen Kuss von innen zeigen? Lennart Nilsson konnte. Er ließ ein retrogrades Endoskop bauen, ein Spiegelrohr, durch das man "rückwärts" guckt. Damit filmte er eine Erdbeere auf dem Weg in den Mund und den Kuss eines jungen Paares aus der Sicht des männlichen Backenzahns. Und dann war da noch die Idee zu zeigen, wie die mütterliche Brustwarze beim Stillen auf den Baby-mund zukommt. Lange suchte er nach dem geeigneten Kind. Einem, dem der Apparat in der Mundhöhle und die Scheinwerfer nichts ausmachten. Er fand es in einem sechs Wochen alten Mädchen, dem er gut zuredete und das er während der Aufnahmen mit Gurrlauten und Summen beruhigte.
Und was kommt als Nächstes? Neulich ist ihm eingefallen: Die Brutstätte des SARS-Virus hat noch niemand gefunden und abgelichtet. Warum eigentlich nicht? Müsste doch zu entdecken sein. Ganz klar: Lennart Nilsson muss nach China. Schließlich ist er erst 81.