Alle Jahre wieder: Weihnachtsgans, Schokoladenplätzchen und Dresdner Stollen laden zum Verzehr ein und lassen bei vielen Menschen die Pfunde auf der Waage klettern. Voll Neid blicken diätgestresste Zeitgenossen auf diejenigen Mitmenschen, bei denen die weihnachtlichen Kalorienbomben keine sichtbaren Spuren hinterlassen.
Komplizierte Mechanismen
"Zwischen 50 und 70 Prozent ist Übergewicht genetisch bedingt", erklärt der Humangenetiker Johannes Hebebrand von der Universität Essen-Duisburg. Seine Forschungsgruppe ist den Ursachen von Übergewicht auf der Spur, will enträtseln, wer dünn bleibt und wer dick wird. Die Forscher untersuchen derzeit dazu 300 Familien, in denen mindestens zwei Kinder an Übergewicht leiden.
Bislang seien acht oder neun Gene bekannt, die dick machten, erklärt Hebebrand. Doch die Mechanismen sind offenbar kompliziert. Mehrere hundert Gene, schätzt Hebebrand, sind an der Gewichtsregulierung beteiligt. Noch kennt niemand die komplizierten Regelkreise, mit denen Appetit, Energieaufnahme, Nahrungsverwertung und Gewicht gesteuert werden.
Wissenschaftler interessieren sich aktuell für ein ganz bestimmtes Gen, das MC4R-Gen. Bei einer Mutation dieses Gens wiegt ein 1,80 Meter großer Mann durchschnittlich 13 Kilo mehr als normale Männer. Eine 1,70 Meter große Frau bringt sogar 27 Kilo mehr auf die Waage. Die betroffenen Menschen neigten zu Übergewicht, hätten mehr Hunger und würden vielleicht auch weniger Kalorien verbrennen, erklärt der Essener Forscher. Menschen mit einer anderen Veränderung in dem selben Gen seien hingegen 1,5 Kilo leichter als andere.
Immer mehr Menschen in Deutschland leiden an Übergewicht. Das Robert-Koch-Institut in Berlin geht davon aus, das etwa zwei Drittel der männlichen Bevölkerung und rund die Hälfte der weiblichen Bevölkerung übergewichtig oder adipös sind. Sieben Prozent der Kinder und Jugendlicher leiden an extremer Fettsucht. Wer übergewichtig ist, hat ein höheres Risiko für Schlaganfall und Herzinfarkt und hat deutlich häufiger Bluthochdruck, Zuckerkrankheit und erhöhte Blutfette.
Die Evolution bevorteilte die Fettsammler
Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Übergewichtigen in den westlichen Industrienationen steigen wird. Beinahe jede Generation in der Geschichte der Menschheit hat eine Hungerkatastrophe mitmachen müssen. Wissenschaftler nehmen daher an, dass diejenigen Menschen einen Überlebensvorteil hatten, die dank ihrer genetischen Ausstattung in guten Zeiten besser Fettreserven ansammelten. Dieser Vorteil wird jedoch in Zeiten, in denen das Nahrungsangebot reichhaltig, billig und immer verfügbar ist, zum Bumerang. Möglicherweise seien diejenigen Genvarianten, die schlank hielten, daher seltener anzutreffen, erklärt Hebebrand.
Ein Mensch, der eine erbliche Veranlagung zum Dickwerden hat, muss gegen sich selbst kämpfen, um schlank zu bleiben. "Es verlangt den Betroffenen sehr viel ab.", sagt Hebebrand. Der Betroffene müsse sich "ein Stück weit der modernen Lebensweise entziehen". Wer im Büro vor dem Computer sitze, habe im Extremfall keine Chance, sein Gewicht konstant unten zu halten. "Da muss er schon schwere körperliche Arbeit leisten." Ein schwacher Trost für alle, die von Hungerkuren, Kalorienzählen, Trennkost und Langlauf frustriert sind.
Agnes Tandler, AP