Frau Lück, die Naturwissenschaften sind bei vielen Schülern gefürchtet. Warum bringt Sie das so in Rage?
Bei Beliebtheitsstudien landet die Chemie immer an vorletzter Stelle der gesamten Fächerskala, Physik an letzter Stelle. Und trotzdem bleiben die Lehrpläne unverändert! Deutschland ist der größte Chemie-Exporteur Europas - und leistet es sich dennoch, einen Unterricht zu machen, der die Schüler nicht im Herzen trifft.
Wie meinen Sie das?
Bis zur Klasse 7 hören die Schüler nichts von Chemie. Sie sind dann wirklich neugierig: Jetzt kommt das Fach, das sie bisher nicht machen durften! Und dann? Wird es so langweilig vorgetragen, völlig alltagsfern! Da werden Begriffsdefinitionen abverlangt - so steht es in den Lehrplänen: der Unterschied zwischen Gemisch und Gemenge. Da wird eine Erwartungshaltung geweckt, Kittel, Schutzbrillen angezogen. Und am Schluss sollen die Schüler von der letzten Reihe aus zugucken, wie der Lehrer ein Experiment macht.
Wie müsste denn guter Unterricht aussehen?
Er müsste vor allem früher anfangen: Fünfjährige, sechsjährige Kinder sind große Forscher! Aus denen sprudeln die Warum-Fragen hervor: Warum ist der Himmel blau? Warum ist das Wasser heiß? Und warum löst sich der Zuckerwürfel darin? In dieser Zeit können wir die Naturwissenschaften ins Herz der Kinder legen, so dass sie geliebt werden. Aber stattdessen bekommen viele Kinder zu hören: "Dazu bist du noch zu klein, das verstehst du noch nicht". So eine Anmaßung! Dahinter steckt meist kaschiertes Nichtwissen der älteren Generation.
Die Kinder schon im Kindergarten an die Chemie heranzuführen - ist das nicht viel zu gefährlich?
Es muss nicht laut knallen, damit die Kinder bei der Sache sind. Wenn wir mit Kindern im Kindergarten experimentieren, ist es mucksmäuschenstill. Die Kinder gucken ganz konzentriert und mit großen Augen zu und wollen wissen: Warum geht eine Kerze aus, wenn man ihr die Luft entzieht?
Die spektakulären Experimente sind das einzige, an das sich viele Erwachsene aus dem Chemie-Unterricht noch erinnern. Es gibt ja sogar den Spruch: Chemie ist das, was kracht und stinkt...
Bloß nicht: Es darf nicht stinken! Stinken legt immer eine negative Gedächtnisspur. Wir wollen aber doch positiv an die Chemie heranführen! Deshalb extrahieren wir zum Beispiel mit den Kindern Parfüminhaltsstoffe, etwa Lavendel: Das riecht gut.
Dürfen die Kinder bei Ihnen auch selber ran?
Natürlich, das ist etwas, was ich für den Unterricht ganz wichtig finde. Hausaufgaben, bei denen der Schüler mit Alltagsmaterialien ein Experiment zuhause durchführt, sind für mich ein ganz wichtiges Mittel, um Chemie wieder beliebter zu machen. Sie geben den Schülern auf: Geht doch mal nach Hause und versucht aus Wasser, Öl und einem Emulgator eine Körperlotion herstellen. Das ist doch viel interessanter als der Farbumschlag von Lackmus bei Säuren oder Laugen! Solche Hausaufgaben machen Spaß - und man kann die Lotion hinterher sogar noch verwenden.
Solch komplexe Zusammenhänge können Kindergartenkinder aber sicher noch nicht verstehen, oder?
Sie sollten Kinder nicht unterschätzen! Wir haben Kinder befragt, die im Kindergarten die Möglichkeit hatten, Naturphänomenen auf den Grund zu gehen. Noch nach einem halben Jahr erinnerten sich die Kinder an mehr als die Hälfte dessen, was dort vermittelt wurde: Warum geht eine Kerze aus, wenn man da ein Glas drüber tut? Wann geht eine Kerze schneller aus: unter einem kleinen Glas oder unter einem großen Glas? Eine sehr schwierige Frage: Dazu muss das Kind den Transfer schaffen, dass in einem kleinen Glas weniger Luft ist, dass eine Kerze Luft braucht, um zu brennen, und dass sie schneller ausgeht, wenn sie weniger Luft hat.
Später geht es aber dann doch nicht ohne Strukturformeln und das verhasste Periodensystem.
Wenn wir Naturwissenschaften alltagsnah und immer wieder mit schönen Experimenten vermitteln, sind auch Strukturformeln kein Schock mehr für die Schüler. Im Gegenteil: Sie fordern sogar die Erklärung ein! Wieso ist Kohle schwarz und der Diamant glänzt so schön - obwohl beide aus demselben Stoff bestehen, nämlich Kohlenstoff?
Warum ist dieses Wissen so wichtig?
Keine Generation wird so viele Probleme zu lösen haben wie die Kinder, die heute in den Kindergarten gehen - denken Sie nur an den Klimawandel! Wir haben ein Problem mit Kohlendioxid - warum eigentlich? Wir atmen schon immer Kohlendioxid aus! Soll ich für oder gegen ein Kernkraftwerk sein? Um diese Fragen beantworten zu können, braucht man zumindest Grundlagen in Chemie. Und ehrlich gesagt: Es kann auch nicht schaden, wenn die Friseurin über Chemie Bescheid weiß, die mir Strähnchen macht.
Gisela Lück ist Professorin für Chemiedidaktik an der Universität Bielefeld und Autorin zahlreicher Sachbücher, etwa "Leichte Experimente für Eltern und Kinder" und "Was blubbert da im Wasserglas? Kinder entdecken Naturphänomene"