Synästhetiker Kognitive Fossile oder wirklichere Wirklichkeit?

Töne haben Farben, Gerüche oder Geschmäcker - bei Synästhetikern vermischen sich Sinneswahrnehmungen. Forscher haben verschiedene Erklärungsansätze für das Phänomen.

Es gibt Menschen, für die Buchstaben oder auch Zahlen bestimmte Farben haben, die Musik farbig hören und für die umgekehrt Farben auch Töne haben. Das von der Wissenschaft als Synästhesie (Mitwahrnehmung) bezeichnete Phänomen ist schon seit langem bekannt. Aber erst neuerdings ist es Forschern gelungen, sich seinen Ursachen zu nähern und es damit auch vom Ruch der Einbildung zu befreien. Einige schätzen, dass es im Schnitt unter 300 Menschen einen Synästhetiker gibt, das wären in Deutschland mehr als 200.000. Etwa 85 Prozent sind Frauen.

Babys sind eine Weile lang auch Synästhetiker

Die Zeitschrift "Psychologie heute" gibt einen Überblick über neuere Forschungsbefunde. Demnach erscheint Synästhesie als ein "Binding"-Problem. Binding nennen Wissenschaftler die Fähigkeit des Gehirns, die vielen eingehenden Reize so zu verkoppeln, dass ein einheitliches Ganzes entsteht. Synästhetiker sind Menschen, deren Gehirn zu "Hyperbinding" in der Lage ist. Sie verfügen über mehr Kopplungen als üblich. Forscher kommen auf bis zu 30 Sinnespaarungen. So kann auch der Geruch oder der Geschmack, etwa von Wein oder Zitronensaft, mit Farbe verbunden sein. Besonders häufig ist das Farbenhören.

Auffällige familiäre Häufungen lassen ein "Synästhetiker-Gen" plausibel erscheinen. Der englische Psychologe Simon Baron-Cohen (Universität Cambridge) sucht danach auf dem X-Chromosom. Nach seiner Theorie sind bei Synästhetikern Nervenverbindungen aus der ersten Zeit nach der Geburt erhalten geblieben. Er bezieht sich damit auf Ergebnisse der Säuglingsforscherin Daphne Maurer (McMaster University, Ontario, Kanada). Ihren Studien zufolge nehmen Babys Hör-, Seh- und Berührungsreize als ein Gemisch wahr, also synästhetisch. Erst mit etwa drei Lebensmonaten verschwinden diese neuronalen Verbindungen und die verschiedenen Reize werden unterschieden.

Sind Synästhetiker "kognitive Fossilien"?

Der US-Neurologe Richard Cytowic (US-Bundeshauptstadt Washington) vertritt im Unterschied hierzu die These, dass jeder Mensch über die latente Fähigkeit zur Synästhesie verfüge, sie aber nur bei wenigen ins Bewusstsein dringe. Er beobachtete im Gehirn eine Beteiligung des limbischen Systems, des emotionalen Gedächtnisses, an Synästhesie. Da es seinen Sitz im evolutionsgeschichtlich älteren Teil des Gehirns hat, vermutet er, dass synästhetische Wahrnehmungsmuster im Laufe der Evolution verloren gegangen sind, Er betrachtet daher Synästhetiker als "kognitive Fossilien".

Markus Zedler, ein Mitglied des Teams des Synästhesie-Forschers Hinderk Emrich von der Medizinischen Hochschule Hannover hat bei Synästhetikern als Persönlichkeitsmerkmale unter anderem Ausgeglichenheit und Gelassenheit festgestellt sowie eine "verstärkte Intuition". Sie könnten Dinge sehr schnell einordnen, hätten eine Art Vorahnung, "nicht im parapsychologischen Sinn von Hellsehen, sondern als Wissen um Dinge, noch bevor sie analysiert sind". Die große Aufgabe künftiger Synästhesieforschung sieht er in der Bündelung der überbordenden Vielfalt des bisher gesammelten Datenmaterials. Eine entsprechende Gesellschaft ist in Hannover in der Gründung.

Was ist Wahrnehmung – was Wirklichkeit?

Eine Ergänzung zu den von "Psychologie heute" verzeichneten Befunden liefern einige grundlegende Definitionen in einer Synästhesie-Abhandlung mit geistesgeschichtlichem Ansatz des Professors für Klassische Philologie, Arbogast Schmitt (Universität Marburg). Der Autor verweist auf die schon in der Antike erörterte grundsätzliche Frage, was bei Wahrnehmungen Wirklichkeit ist und was subjektive Auffassungsakte sind.

Die moderne Wahrnehmungsforschung habe inzwischen belegt, dass auch elementare Wahrnehmungen nicht einfach Reizbeantwortungen seien, sondern Konstruktionen unseres Gehirns. Schmitt zufolge trennt das Hirn vor einer bewussten Wahrnehmung das zunächst ungeschiedene Ganze. "Das Phänomen Synästhesie gehört in den Bereich einheitlicher, noch nicht vom Bewusstsein fragmentierter Erfahrungsformen", fasst der Professor auf Nachfrage zusammen. "Es ist deshalb nicht einfach ein Zeichen einer gestörten, pervertierten Wahrnehmung, sondern gehört zu den unmittelbareren, ursprünglichen Erfahrungsformen des Menschen."

Rudolf Grimm, DPA

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