Ich höre gerne Radio. In England höre ich besonders gerne Radio, weil die Programme abwechslungsreich, unterhaltsam und meistens ziemlich klug sind. Auf BBC 2 lief vor ein paar Tagen eine Sendung, die abwechslungsreich, unterhaltsam und auch ziemlich klug war. Sie beschäftigte sich ausschließlich mit dem plötzlichem Ableben der nackten Mädchen auf der Seite 3 der „Sun“. Der Moderator leitete das Programm mit dem Satz „Page three is no more“ ein, die Seite drei ist nicht mehr. Er sprach in einem Tonfall, als sei eine nationale Ikone verblichen, Mick Jagger oder so. Dann riefen Hörer an. Die meisten Frauen begrüßten das Verschwinden der Nackten als längst überfällig, die meisten Männer auch. Das war nicht weiter verwunderlich. Wer ruft schon bei der BBC an und sagt live im Radio vor allen Leuten, dass er die Titten in der „Sun“ vermisst?
Es gab natürlich ein paar, die die Titten in der „Sun“ vermissten. Der Sprecher las zum Beispiel die Mail eines „Sun“-Lesers aus Sheffield vor, der sich über die fehlenden Brüste beklagte und das auf übertriebene politische Korrektheit zurückführte. Er werde sich jedenfalls die Zeitung nicht mehr kaufen. Aus Protest. Nur aus Protest. Und nicht wegen der Brüste beziehungsweise keiner Brüste.
Die Abschaffung der Nacktmodelle beschäftigte offenbar die ganze Welt. „Bild“, das deutsche Schwesterblatt der „Sun“, kondolierte standesgemäß großflächig mit den schönsten Momenten aus 44 Jahren oben ohne und reimte „Bye-bye schöne Nackte von Seite drei“. Der englische Konkurrent „Daily Star“ brüstete sich sofort als neue Heimat der Barbusigen und verteidigte die Tradition der Seite 3 als „ebenso britisch wie Yorkshire Pudding, Roast Beef und Fish and Chips“. Auch die Kollegen reimten schadenfroh: „More fun than the Sun.“
Am Abend schaffte es die „Sun“ in die Hauptnachrichtensendung und überhaupt in jede Talkshow. Es gab Pro und Contras. Eine Frau fragte, was denn Männer wohl sagen würden, wenn statt der Mädchen gut gebaute nackte Kerle sich das Gemächt schaukeln würden? Ein Mann sagte, ihm sei die ganze Diskussion furchtbar egal, weil er die „Sun“ per se verabscheue und er sie sich auch nicht kaufen würde, wenn sich Kerle das Gemächt schaukelten. Andere wiederum sorgten sich allen Ernstes um schwindende Einnahmemöglichkeiten von Working-Class-girls, denen das Blatt in mehr als 40 Jahren zu kurz- oder auch längerfristigem Ruhm verhalf. Darunter die legendäre Josie Cunningham, deren gewaltige Brustvergrößerung vom National Health Service bezahlt worden war. Die Operation, davon konnten sich die Leser dann überzeugen, trug immerhin Früchte.
Frauenrechtlerinnen tobten sich in allen Zeitungen und auf allen Kanälen aus und feierten das Ende einer Ära. Man konnte fast den Eindruck bekommen, in Großbritannien gäbe noch kein Internet. Eine schrieb im „Guardian“, die sexuelle Revolution habe die Page 3-Girls möglich gemacht. Und eine feministische Revolution habe sie beendet. Oder auch nicht.

Unterdessen bogen sich die Blattmacher der „Sun“ vor Lachen. Am Donnerstag, nur Tage nach dem vermeintlichen Aus, kam es zur Wiederauferstehung, einer Art Busen-Wunder. Auf der Frontseite der „Sun“ stand „We’ve had a mammary lapse“, ein Wortspiel, das auf memory lapse (Erinnerungslücke) und mammary (Brust) anhebt. Und auf Seite 3 grüßte unter der Rubrik „Klarstellung und Korrekturen“ augenzwinkernd die blonde Nicole, 22, aus Bournemouth. Sie hatte wenigstens eine Kette an, darunter der Text: „Wir möchten uns im Namen von allen Print-, Radio- und Fernsehjournalisten entschuldigen, die die vergangenen zwei Tage damit verbracht haben, über uns zu reden oder zu schreiben.“ Die Nackten und die Zoten. Erst war die Zeit der Nachrufe, dann kam die Zeit der Widerrufe auf die Nachrufe: Die Büste lebt. Jedenfalls noch ein bisschen.

Das war ein gelungener PR-Stunt und Ausweis von britischem Humor. Nun sprechen wieder alle von der Zeitung, mehr Werbung geht nicht. „Der Kampf geht weiter“, twitterte die Gründerin der No-more-Page 3-Kampagne. Einige beklagten sich, die Blattmacher hätten einen üblen Spaß mit Feministinnen getrieben, andere feierten die neuen Nippel als Sieg der freien Rede und Meinungsfreiheit.
Beides grober Quatsch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Nackten richtig verschwinden aus der gedruckten Ausgabe und dorthin wandern, wo schon alle anderen Nackten sind, ins Netz. Die „Sun“ wollte sich nur nicht die Oben-ohne-Hohheit diktieren lassen und selbst bestimmen, wann Schluss ist mit den Busen-Mädchen.
Die lächerlichen Fotos, das wissen die „Sun“-Leute selbst am besten, sind seltsam aus der Zeit gefallen und funktionieren nicht mal mehr als Persiflage auf einen Anachronismus. Sogar der Oberboss Rupert Murdoch findet das. Im angelsächsischen Bereich sind sie obendrein geschäftsschädigend. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Wenn der stern Frauen mit nackter Brust auf dem Titel hatte (Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Magenschmerzen, Kniegelenk), mussten wir vor Jahren in Amerika die Nippel vorsichtshalber operativ entfernen oder wenigstens überkleben, ehe wir Hefte an mögliche Interviewpartner verschickten. Amerikaner sind sehr empfindlich mit Brustwarzen auf Fotos. Sehr. Potentielle Anzeigenkunden wie Apple und auch Disney wollten sich jedenfalls an der Brustwarzen-freundlichen „Sun“ nicht die Finger verbrennen.
Vorerst erscheint das Blatt mal mit Titten und mal ohne. Who cares? Über kurz oder lang tragen die Mädchen auf der Seite 3 Bikinis und online gar nichts.
Ach, und das Ganze nennt sich dann: Fortschritt.