Mail aus Mumbai Baby-Göttin mit zwei Gesichtern

  • von Swantje Strieder
Vier Wochen nach ihrer Geburt ist Lali eine Berühmtheit in Indien: Sie ist gesund und wird als Gottheit verehrt. Dem zweigesichtigen Mädchen geht es damit deutlich besser als vielen anderen indischen Kindern - insgesamt 18 Millionen leben auf den Straßen des Landes.

Sie hat nicht zwei, sondern vier Augen, nicht eine, sondern zwei Nasen - und zwei Münder. Über ihr, auf dem Bett der Eltern, hängt das Bild der Glücksgöttin Lakshmi. 24 Tage ist das kleine Mädchen mit zwei Gesichtern alt, das in einem Dorf im Bundesstaat Uttar Pradesh, 50 km nordöstlich von Dehli, geboren wurde. Es lebt, es atmet, es trinkt normal, behauptet jedenfalls sein Vater Vinod Kumar. Warum sich Sorgen machen?

Jeder Mediziner würde das Baby als schwerstbehindert ansehen, doch die Eltern und Nachbarn haben begonnen, sie als eine kleine Göttin zu verehren. Bis zu 100 Besucher kämen täglich, um respektvoll ihre Füße zu berühren und ihr ein Geldgeschenk zu bringen, sagt ihr Vater. Er ist 23 Jahre alt und ein einfacher Landarbeiter. Eigentlich geht es dem zweigesichtigen Mädchen besser als vielen anderen indischen Kindern.

Zum Beispiel Ravi. Als der schmächtige Neunjährige in den Gerichtssaal von Chandigarh, Hauptstadt der Bundesstaaten Punjab und Haryana, humpelte, verschlug es den Anwesenden vor Schreck die Sprache. Der Junge schwankte und hielt sich den Bauch vor Schmerzen, sein Arm stand quer ab, als sei er gebrochen, seine Fersen waren blau vor Blutergüssen. Als sein Anwalt T. S. Sudan ihn hochheben wollte, schrie der Kleine panisch. "So haben sie ihn auf der Polizeistation 34 zugerichtet", klagte der Anwalt der Tageszeitung "Times of India". "Die Polizisten haben ihn dermaßen misshandelt und mit Schlagstöcken traktiert, dass ihm wahrscheinlich auch noch ein paar Rippen gebrochen wurden."

Das "Verbrechen" des Kleinen: Er hatte 300 Rupien, etwa 5 Euro, auf dem Markt gestohlen, um heim zu seiner Großmutter ins Dorf Chhapra zu fahren. Schließlich war er über Nacht Waise geworden. Seinen Vater hatte er schon lange verloren, seine Mutter hatte ihn erst vor ein paar Tagen verlassen, nachts, als er friedlich schlief.

Indien hat die meisten Straßenkinder

Die Polizei von Chandigarh bestritt alle Anschuldigungen. Kommissar Harminder Singh bestätigte zwar, dass seine Kollegen dem Jungen Fingerabdrücke abgenommen hatten, was sie nach dem Jugendschutzgesetz nicht gedurft hätten, aber, bei seiner Polizistenehre, Folter? Niemals. Schändlich. "Das waren wohl die Marktleute, die ihn beim Klauen erwischt und ein paar verpasst haben", beteuerte der Gesetzeshüter.

Als Ravi schließlich von Richter J.S. Bhinder in dessen aufgeräumtes, sauberes Büro gebeten und er das erste Mal seit Tagen Kekse und Waffeln bekam und ein medizinischer Gutachter bestellt wurde, wußte der Kleine kaum, wie ihm geschah. Und wieviel Glück im Unglück er gehabt hatte: er wird betreut, sein Fall ist nun aktenkundig, hunderttausende Fälle von misshandelten Straßenkindern sind es nicht.

Indien hat nach Schätzungen von Human Rights Watch die meisten Straßenkinder der Welt - 18 Millionen - und seit den späten Neunzigern eines der besten Jugendgesetze der Welt. Und mit neun Prozent jährlich eine der größten Wirtschaftswachtumsraten der Welt. Aber in einem 1,1 Milliarden-Land, wo 750 Millionen Menschen unter zwei Dollar am Tag verdienen, ist das Kinderelend auf der Straße immer noch bodenlos.

Sie sammeln Müll, sie sind oft krank

Sie sammeln Müll, arbeiten als Handlanger, Lastenträger, Teppichknüpfer, Laufjunge, Bettler oder Dieb. Sie sind oft krank, leiden an Tuberkulose, Lepra, Typhus, Malaria, und wenn sie ins Sexbusiness geraten, werden sie auch noch HIV-infiziert. Eigentlich stünden ihnen kostenlose Regierungshospitäler offen, aber, so Human Rights Watch, die Kinder können die Schmiergelder, die man den Ärzten und Schwestern in die nicht immer sterilisierte Hand drücken muss, um überhaupt behandelt zu werden, nicht bezahlen.

Zum Glück gibt es immer wieder Fälle mit Happy End. Dank guter Menschen - und dank Google. Rakesh war sieben, als sein Vater starb. Sein Onkel, der für ihn und seine Mutter hätte sorgen sollen, trieb die junge Witwe in den Tod und misshandelte den Kleinen, bis der davonlief. Rakesh lungerte auf den Bahnhöfen Dehlis herum, wo ihn, den kleinen Hindu, eine muslimische Professorenfamilie entdeckte und großzog. Es ging ihm gut, aber "immer wieder tauchten Bilder meiner Kindheit auf, doch ich konnte mich an nichts als den Namen des Dorfes erinnern, Kiraoli," sagt Rakesh zur "Times of India". Heute, mit zwanzig, ist das ehemalige Straßenkind ein smarter Student mit Computerdiplom, der die moderne Technik für sich einzusetzen weiß.

Happy End dank guter Menschen und Google

Mit Google Earth hat er so lange gezoomt, bis er sein Heimatdorf Kiraoli, nur 22 km von Agra mit dem weltberühmten Taj Mahal entfernt, fand - und auch seinen verbrecherischen Onkel, der ihn verleugnet. Jetzt kämpft der junge Mann - "und wenn ich einen DNA-Test machen muss!"- bei den Behörden um sein rechtmäßiges Erbe in Kiraoli.

Das Baby mit den zwei Gesichtern hat immerhin Eltern, die sich rührend kümmern. Und die Aufmerksamkeit der medizinischen Welt. Vielleicht würde sich eines Tages eine, wenn auch extrem schwierige, Operation wie im Fall von Lakshmi, des kleinen Mädchens mit vier Armen und vier Beinen, lohnen, spekulierten indische Zeitungen. Die zweijährige Lakshmi aus Bihar, deren Schicksal um die Welt ging, kann dank des beherzten Eingriffs eines 30köpfigen Chirurgenteams im vergangenen November ein fast normales Leben führen, sonst hätte sie die Pubertät nie überlebt. Doch daran will Vinod Kumar, ein armer Tagelöhner, vorerst nicht denken. "Meine Tochter ist ein Geschenk der Göttin" sagt er schlicht.