Hunderte von Frauen sitzen in der großen Halle des Bhajan Ashrams, eines religiösen Zentrums in der nordindischen Stadt Vrindavan, auf dem Boden. Über ihnen surren Deckenventilatoren gegen die drückende Hitze des Nachmittags an. Die Wände sind hellblau gestrichen, überall hängen bunte Stoffgirlanden. Die meisten Frauen sind in den Fünfzigern oder älter, auch einige Junge sind unter ihnen. Viele von ihnen sind komplett in Weiß gehüllt, im bunten Indien ist das die Trauerfarbe. Hier ist es die Farbe der Verstoßenen: Denn sie alle sind Witwen.
Heilige Riten statt Prostitution
Eine der Türen öffnet sich. Zwei Witwen kommen herein, verkleidet als Halbgott Krischna und seine menschliche Gefährtin Radha und beginnen zu tanzen. Die Frauen beginnen, Schellen aufeinander zu schlagen und zu trommeln und zu singen. Für die Frauen ist die religiöse Andacht die einzige Möglichkeit, zu überleben: Die Glaubenszentren der Stadt geben ihnen Geld, wenn sie an den Zeremonien teilnehmen.
Denn ein normales Leben können viele Witwen in Indien nicht mehr führen. Viele Familien verstoßen eine Frau, wenn ihr Mann stirbt. In der konservativen Gesellschaft Indiens haben sie damit Schande über sich gebracht, man gibt ihnen die Schuld am Tod des Mannes. Nicht wenige Witwen enden als Prostituierte, weil niemand mehr mit ihnen zu tun haben möchte. Nur in Pilgerorten wie Vrindavan können sie halbwegs in Würde überleben.
Für eine Handvoll Reis
Neben dem Eingang sitzt Jashna Toshi auf einer beigefarbenen Wolldecke, sie ist Anfang sechzig und schaut durch eine dicke Nickelbrille. Sie stapelt quadratische Metallplättchen und Ein- und Zwei-Rupien-Münzen neben sich. "Das sind die Gutscheine", sagt sie und hält eines der Plättchen in die Höhe. "Die bekommt jede Frau, wenn sie um 16 Uhr zur Zeremonie kommt." Nach der Veranstaltung, die vier Stunden dauert, können sie die Frauen bei ihr gegen Geld eintauschen. Sie bekommen dafür drei Rupien, umgerechnet fünf Cent.
Auf der anderen Seite des Eingangs sitzen etwa hundert Frauen vor einem Tisch auf dem Boden und warten, bis sie namentlich aufgerufen werden. Hier gibt ein Mitarbeiter des Meditationszentrums gegen die Märkchen oder Bargeld Reis, Mehl und Gemüse zu staatlich festgelegten Mindestpreisen aus. Jeden Tag verdienen sich hier auf diese Weise zwischen 900 und 1500 Witwen den Lebensunterhalt.
"Witwen bringen kein Geld"
Heute sind Frauen aus der Mittel- und Oberschicht in den Städten Indiens oft finanziell unabhängig, sie können für sich sorgen, wenn sie Witwe werden. Doch noch vor wenigen Jahren war das anders. Minka Mukherjee, heute 83, unterrichtete an einer Universität im nordindischen Meerut, als vor drei Jahrzehnten ihr Mann starb. Doch ihr hoher gesellschaftlicher Status schützte sie nicht vor dem gesellschaftlichen Aus.
Mukherjee sitzt auf einem Plastikstuhl im Hinterhof des Witwenwohnheims der Organisation "Guild of Services". Sie hat ihre grauen Haare zu einem Zopf zusammengebunden und trägt einen weißen Sari über einem grünen Oberteil. Auf Jutesäcken liegen Räucherkegel zum Trocknen aus. Hinter grünen Doppeltüren liegen die kleinen Kammern, in denen die Frauen leben. Die meisten von ihnen sind geschlossen, um die Hitze aus dem Gebäude zu halten.
"Meine Kinder wollen noch heute Geld von mir", sagt Mukherjee in perfektem Englisch. "Doch woher soll ich das nehmen?" Ansonsten höre sie nichts von ihrer früheren Familie. "Die meisten Familien verstoßen Witwen vor allem aus finanziellen Gründen", glaubt Mukherjee. "Witwen bringen kein Geld. Und Geld ist heute das Wichtigste."
Der Familie nicht zur Last fallen
Neben ihr sitzt Anjali Chatterjee. Sie ist Brahmanin, die Anhängerin der hoch angesehenen Priesterkaste und stammt aus dem fernen Bengalen, wo vor elf Jahren ihr Mann starb. "Ich wollte nicht bei meiner Familie bleiben", sagt sie. "Mein Sohn ist alt genug und kann die Familie unterstützen." Ansonsten wäre sie ihrer Familie doch nur zur Last gefallen, fügt sie hinzu.
Sie steht auf und geht zu ihrem kleinen Zimmer, das direkt an den Hinterhof grenzt. Es ist nur etwa vier Quadratmeter groß ist. Chatterjee hat es sich zu einem Schrein ausgebaut: An der Wand hängt ein großes Krischna-Plakat, davor zeigen etliche kleine Bildnisse den Halbgott und seine Gefährtin Radha. Alle sind mit gelben und safranfarbenen Stoffketten geschmückt. Chatterjee hängt einen Sari vor die Tür, um die Sicht zu versperren, und beginnt ihre Gebete.
Schleichender Fortschritt
Die Sonne neigt sich über Vrindavan, es wird Abend. Die Frauen des Witwenheims versammeln sich im Hof und schauen Fernsehen. Aus der kleinen Kammer von Anjali Chatterjee dringt leises Glockengebimmel. Sie ist immer noch ins Gebet zu Krischna vertieft.
Auch wenn mittlerweile vor allem in den Städten viele Frauen selbst für sich sorgen können, wird es noch lange dauern, bis keine Witwen mehr nach Vrindavan kommen. Denn auch die Moderne, die so rasend schnell in Indien Einzug hält, wird so schnell nichts an dem Stigma ändern, das seit tausenden von Jahren über Witwen liegt.
Liebe Leser, die Serie "Planet Indien" ist im September dieses Jahres erschienen - also vor den Terroranschlägen in Mumbai. Wir haben uns entschieden, die Texte nicht entsprechend zu aktualisieren, d. Red.