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Demografie-Experte "Das ist Politik mit der Angst"

Rente mit 67? Kollabierende Sozialsysteme? Kinderlosigkeit? Thomas Etzemüller, Historiker an der Uni Oldenburg, hält die Demografie-Debatte für völlig überzogen. Im stern.de-Interview sagt er, woher die apokalyptischen Visionen kommen - und wer davon profitiert.

Herr Professor Etzemüller: Ist das Ende der Deutschen nun nahe oder nicht?

Für mein neues Buch habe ich mir die Bevölkerungsdiskussion seit 1798 angeschaut und bin darauf gestoßen, dass immer wieder dieselben Fragen und Prognosen auftauchen: Wir überaltern, überfremden und sterben aus. Das sind genau die Klagen, die wir auch heute täglich zu hören bekommen. Mir ist gleichzeitig aufgefallen, dass es zwar einen starken Geburtenrückgang gegeben hat, die Sterblichkeit aber ebenfalls zurückging. Über die Jahrhunderte betrachtet lag die Geburtenrate immer über der Sterblichkeitsrate. Deshalb ist die Bevölkerung auch permanent gewachsen und nicht ausgestorben, wie schon im frühen 20. Jahrhundert prophezeit. Meine dritte wesentliche Erkenntnis: Der demografische Diskurs ist eine Wissenschaft der Angst, in der die Apokalypse der Welt gepredigt wird, ohne jemals wahr geworden zu sein.

Also ist alles nur Panikmache und wir sterben gar nicht aus.

In den 1930ern wurde vorhergesagt, dass der Beginn des Schrumpfungsprozesses der Deutschen im Jahr 1940 liegt. Die Bevölkerung würde von 65 Millionen auf 49 Millionen im Jahr 1975 zurückgehen, war die Prognose damals. Das ist nicht eingetroffen. Dieselben Schrumpfungsprognosen finden wir beim Statistischen Bundesamt im November 2006. Die Zahlen sind natürlich andere, die apokalyptische Prophezeiung dieselbe. Ich habe im Moment allerdings nicht den Eindruck, dass wir aussterben. Es ist eher so, dass sich die Altersstruktur ändert. Und dem können sich soziale Institutionen anpassen.

Wann begann die Diskussion um die Demografie?

In der frühen Neuzeit war allein die Antwort darauf wichtig: Haben wir genügend Soldaten, haben wir genügend Arbeiter. Man hatte zu wenig oder man hatte genug. Zu viele gab es nicht. Dann legte der britische Ökonom Thomas Robert Maltus 1798 mit seinem "Essay on the principle of population" den Grundstein. Richtig los ging der Bevölkerungsdiskurs in den 1870ern, also mit der Industrialisierung und den elenden Lebensbedingungen der Menschen. Weil die als asozial und unmoralisch geltenden Unterschichten zu viele Kinder bekamen, hat man angefangen, Bevölkerung als Problem zu sehen. Das war völlig neu. Es drohte ein enormer Bevölkerungsanstieg der Unterschicht, von dem die bürgerliche Gesellschaft Angst hatte, überflutet zu werden.

Thomas Etzemüller

... Jahrgang 1966, wurde in Remagen geboren. Er hat in Tübingen neuere Geschichte, empirische Kulturwissenschaft und Filmwissenschaften studiert und dort auch promoviert. Seit 2003 ist Etzemüller Juniorprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Oldenburg und beschäftigt sich mit deutscher und schwedischer Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Sein Buch "Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert", erscheit im März im Verlag Transcript.

Eine Parallele dazu ist wohl heute die Dritte Welt?

Ja, denn es geht nicht immer um zu wenig, sondern auch um zu viel Bevölkerung: Die "Falschen", früher die Unterschicht, heute die dritte Welt, bekommen zu viele Kinder. Die "Richtigen" zu wenig. Das ist die bürgerliche Mittelschicht oder die westliche Bevölkerung im Vergleich zur Dritten Welt. Diese Diskussion wird seit über 100 Jahren geführt.

Könnte Zuwanderung unser Problem lösen, so wir wirklich eines haben?

Wäre da nicht die Sorge vor Überfremdung. Seit Jahrhunderten wird beklagt, dass das Deutsche Volk schrumpft und sich Nachbarvölker in diesen Raum drängen. Früher waren es die Slawen, heute sind es die Menschen aus der Dritten Welt oder Osteuropa. Dabei ist Deutschland rein statistisch betrachtet ein Zuwanderungsland. Die Diskussion, Ausländer gezielt anzuwerben, um einen Arbeitskräftemangel auszugleichen, ist eine Idee der 1950er und 1960er Jahre. Willkommen waren und sind die Ausländer aber nicht wirklich.

Sie werden künftig aber wohl gebraucht, je mehr sich die Deutschen der Konsum- und Spaßgesellschaft widmen, statt Kinder groß zu ziehen.

Das Argument gab es bereits 1912. Damals hatte der Wirtschaftswissenschaftler Julius Wolf damit begonnen, Theorien zusammenzustellen, warum Menschen keine Kinder mehr bekommen. Ein Argument war wirtschaftliche Not. Die Menschen können sich Kinder nicht mehr leisten. Ein anderes: Die Frauen emanzipieren sich immer mehr und wollen sich selbst verwirklichen, statt Kinder bekommen. Schließlich würden die Arbeiter ihr Geld lieber verprassen, anstatt mit einer Familie zu teilen. Man sieht, so neu sind die Argumente nicht, aber sie richten sich immer gegen die Frau. Sie ist es, die sich falsch verhält und an ihr setzt die Bevölkerungspolitik an. Männer tauchen in dem Diskurs gar nicht auf. In der gesamten Diskussion um Bevölkerung geht es immer darum, die Geschlechterverhältnisse zu ordnen und zu stabilisieren, wie man sie schon seit Urzeiten hat. Zudem wird der Bevölkerungsdiskurs dazu benutzt, Sozialpolitik zu betreiben.

Inwiefern ähneln sich die Argumente im Bezug auf die Sozialsysteme?

Basis für unsere Sozialsysteme ist immer die Aussage: Wenn wir nicht genügend Kinder von guter Qualität bekommen, sterben wir aus. Und das könne nur verhindert werden, indem Sozialpolitik betrieben wird. Früher wurden Sozialsysteme genau mit diesem Argument aufgebaut, heute damit abgebaut. Es scheint so zu sein, dass die apokalyptische Form notwendig ist, um etwas zu bewegen. Vielleicht ist sie im Laufe der Jahrhunderte gar zu einem Selbstläufer geworden, weil sie ein attraktives Modell ist. Und dem Modell liegt die uns allen bekannte Bevölkerungspyramide zugrunde. Das ist eines der größten Probleme.

Weil sie auf dem Kopf steht?

Es ist unbedeutend, ob die Pyramide unten oder oben breit ist. Als im 19. Jahrhundert die Sterblichkeitsraten massiv sanken, die Geburtenrate aber auf demselben hohen Niveau blieb, wurde die Pyramide als Idealmodell für Bevölkerungsentwicklung gebildet. Dagegen hat der Demograph Franz Xaver Kaufmann in den 1960er Jahren herausgearbeitet, dass sich dieses Bevölkerungspolygon ständig ändert: Mal ist die Basis breiter, mal schmäler. Deshalb gibt es kein Idealmodell, an dem wir demografische Entwicklung messen dürfen. Zudem werden wir immer älter, sind aber bis ins hohe Alter sehr viel gesünder und durch den steigenden Bildungsstandard wesentlich flexibler.

Ein Plädoyer für die Rente ab 67 oder noch später?

Dazu möchte ich mich nicht äußern. Mir scheint nur, dass dieses Klagen der Wirtschaft, Alt ist nicht innovativ und nicht einsatzfähig, sehr problematisch ist. Dabei wird mit ganz wenigen Variablen operiert und kommt deshalb schnell zu einem Katastrophenbild. Wenn leistungsfähige Menschen Mitte 40 heute in die Frührente geschickt werden, leidet zweifellos das Rentensystem. Die Lösung, die dafür propagiert wird heißt: wir brauchen mehr Kinder, weil wir an eine Pyramide glauben, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Würden wir uns davon lösen, wäre der Blick frei für andere Lösungen und es könnte eine neue, bessere Grundlage für die Diskussion geschaffen werden. Mit Franz Xaver Kaufmann und James Vaupel gibt es Demographen, die das versuchen, zudem Unternehmen, die bevorzugt ältere Mitarbeiter einstellen, die genügend Erfahrung mitbringen.

Interview: Peter Ilg

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