Ein Essay zur Weltmeisterschaft Deutschland flattert

Von Friedrich Küppersbusch
Rechtzeitig zur patriotischen Aufwallung in Leder ist wieder Hauptversammlung in der Abseitsfalle des Deutschtums. Geht's bei der Debatte um einen neuen Nationalstolz nicht etwas bescheidener?

Vom ankumpelnden Zeitungswerbegeschenk über die Schwarz-Rot-Golf-Version für 3,99 Euro an der Tanke bis zum vaterländischen Kotflügelstander: Deutschland flattert. Bei Gelegenheit der Fußball-WM unternimmt das deutsche Tuch einen neuerlichen Anlauf in die Welt, die ihm bisher meist verboten blieb: in den Alltag. In die Normalität.

"Unsere Fahne flattert uns voran", summt's da widerhallend im Rentnerohr. Passt, aber dummerweise ist dies die alte Innigkeitsprosa von Reichsjugendführer Baldur von Schirach. "Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not Ja, die Fahne ist mehr als der Tod" - so ging's damals weiter im Text und in den Abgrund.

Hymnen, Hauptstadt, Heraldik - nationale Symbole ohne schwere Vorstrafen sind in Deutschland nicht zur Hand. Dabei hat Schwarz-Rot-Gold doch eine eher harmlose Legende zu bieten: Burschenschafter färbten ihre bunten Zivilröcke auf den gemeinsamen Nenner Schwarz, setzten goldene Messingknöpfe auf und applizierten rote Rockaufschläge - fertig. Auf in die Schlacht für "Ehre, Freiheit, Vaterland", die deutschen Gaue zu einen. Mit einigem Recht ließe sich hier vom ersten deutschen Nationaltrikot sprechen. Noch heute sperrt die Deutsche Burschenschaft Ausländer, Frauen, Zivildienstleistende, Juden und Muslime aus - gaudeamus igitur, deshalb also trinken wir.

Schon die Lateiner schauderten ob der deutschen Fahne

Richtig, schon die Lateiner schauderten ob der deutschen Fahne: "Als Getränk dient eine Flüssigkeit aus Gerste oder Weizen, die in einer gewissen Ähnlichkeit mit Wein gegoren wird", staunte der Römer Tacitus über die ollen Germanen. "Wenn man, ihrer Trunksucht entsprechend, ihnen die Menge geben wollte, die sie so heftig begehren, könnte man sieÉ durch dies Laster eher besiegen als durch die Waffen." Bei Caesar waren wir dem Trunk noch abhold, brachten "Menschen von ungeheurer Körpergröße hervor" und verschreckten die Gegner allein "durch den Gesichtsausdruck und das Feuer der Augen". Das klingt nach einer frühen Kreuzung aus Oli Kahn und Didi Hallervorden. Caesars Motive allerdings ähnelten auch eher denen des Trainers, der vor der peinlichen Niederlage den zweitklassigen Provinzklub starkredet zum "erwartet schweren Gegner".

Noch mal Tacitus: "Das germanische Volk kennt nur eine Art von Schauspiel, und es ist bei jeder festlichen Zusammenkunft das Gleiche: Nackte, junge Männer, für die dies ein Vergnügen ist, werfen sich zwischen Schwerter. Die Lust der Zuschauer ist der einzige Lohn für das verwegene Spiel."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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In der Abseitsfalle des Deutschtums

So sah man unsere Ahnen: Wir soffen gern, ergötzten uns an unseren blutgrätschenden Jungs, machten als Furcht erregende Krieger von uns reden. Dann muss noch irgendetwas passiert sein, und seitdem können wir kein Fähnchen auf Taxi und Lkw vorbeiknattern sehen, ohne in allgemeine Nationalgrübelei zu verfallen. Rechtzeitig zur patriotischen Aufwallung in Leder ist wieder Hauptversammlung in der Abseitsfalle des Deutschtums.

Manch Feuilletonist töpfert nach alter Ahnen Brauch ein vaterländisch Eimerchen Schnurzkeramik zusammen. "Spiegel"-Kulturchef Matthias Matussek fordert buchdick "eine positive Identifikation mit der Nation", wird deshalb zum ARD-"Presseclub" einberufen. Prompt stellt er dort seine enorm fortgeschrittene nationale Entkrampfung unter Beweis: Aufs Stichwort "Nationalismus" bollert er dreimal "Unverschämtheit" und fordert allseits Entschuldigung. Die Tonart der Deutschen ist schmoll.

Schnauze voll von der Nation

Wir haben Angst vor "Überfremdung". Erinnern uns aber nicht mehr, dass unsere Ahnen dies Land durch brutalstmögliche Überfremdung keltischer Urbevölkerung eroberten. Den Christengott musste man uns Heiden spät und oft mit dem Schwert einhämmern. Heute erwarten wir flammende Bekenntnisse von Andersgläubigen. Wir erlitten den Dreißigjährigen Krieg, der schätzungsweise ein Drittel der Bewohner deutscher Länder mordete, vom Rest fraß die Pest. Ein nationales Jahrtausendtrauma, mit dem wir längst so umgehen, wie's allseits auf die Nazi-Zeit bezogen schallt: Man möge doch bitte die Vergangenheit ruhen lassen.

Dass die Deutschen damals Söldnerheere aus aller Welt zu Gast bei Feinden hatten, jede Art religiöser Vormacht und nationalstaatlicher Ordnung als blutigstes Gemetzel erfuhren, wurde ins kollektive Unterbewusstsein weggesperrt. Stattdessen wird von "verspäteter Nation" gesprochen: als Erklärung für alles und Bismarck, Wilhelm, Hitler.

Dabei spricht vieles dafür, dass wir die Schnauze von Nation schon voll hatten, bevor wir eine waren.

Das Land als Patient

Nun, es soll doch auch mal gut sein mit dem ganzen alten Mist. Wenn Deutsche das sagen, klingt es aber leider oft, als hätten sie schon tolle Ideen für schicken neuen Mist. Kann man wissen, wer man ist - wenn man nicht wissen möchte, wer man war? Wir möchten endlich gern menschlich sein. Kanzlerin Merkel eröffnet eine Ausstellung "Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen" aus zwei Jahrtausenden. Die zeigt, dass es im Wortsinne deutsche Geschichte erst 500 Jahre gibt.

Wir haben es wieder mal eilig. Unsere Armee marschiert schwer pazifistisch los, bis dass der Hindu kuscht. Als Asylbewerber hätte Willy Brandt heute in Deutschland keine Chance. Wir wollen nationale Polizei und das Heer im Inneren, weil wir mächtig viel schlauer sind als noch unsere Großeltern. Bald schaffen wir Wehrpflicht und Zivildienst ab. Wir hängen unser Fähnchen in den Wind, weil das vielleicht nicht normal ist, aber halt sehr normal aussieht.

Traumata für eine mehrjährige Therapie

Dies Land als Patient ist 'ne Menge Arbeit für den Therapeuten. Will es über seine Kindheit reden? Mag es sich erinnern, was in der Pubertät schief lief? Möchte es das ein oder andere Schuldpäckchen erkennen und ordentlich adressiert jenen zurückliefern, die es ihm einbrockten? Und sich künftig hüten vor ausreichend durchlittenen Irrwegen? Wäre es gar zum Ungeheuerlichen bereit - sich geduldig lieb zu haben, mal so versuchsweise nur?

Ja und nein. Gern wären wir nach zwei Sitzungen geheilt entlassen - ahnen allerdings, dass wir Traumata für eine mehrjährige Therapie auf dem Kerbholz haben. Wir sind Weltmeister in einer wenig gefragten Disziplin: nationales Scheitern. Und diese Nachricht, jeden nationalen Taumel zu meiden und zu fliehen, will auch keiner von uns hören. Am deutschen Wesen ist die Welt in letzter Zeit oft genug genesen. Als Kompromiss haben wir uns in den vergangenen Jahren darauf eingegroovt, ununterbrochen zu streiten, was denn nun die rechte Therapie sei, etwa auch: gar keine. Unsere Hymne aber sei "Geh aus, mein Herz, und suche Freud".

60 Jahre frische Rekordscham anzunehmen

Eine Gegend, die seit dem Dreißigjährigen Krieg vor gut 350 Jahren so von Kriegen gezeichnet ist wie Deutschland, tut gut daran, die 60 Jahre frische Rekordscham anzunehmen. Unsere Nachkommen werden in Jahrhunderten noch daran knabbern, ganz egal, ob wir Weltkriege und Völkermord aus Gründen der Handlichkeit auf Handy-Klingeltonlänge runterdefinieren wollen. Ich beharre auf meinem Recht, mit dem Zusammenrühren eines eins-a-vorzeigbaren Nationalgefühls noch lange nicht fertig zu sein.

So wie viele meiner Mitbürger auch noch nicht fertig sind. Als die deutsche Elf vor zehn Jahren Europameister in England wurde, traf es Fans hier in Dortmund unvorbereitet. Flugs griff man zu schwarz-gelben BVB-Devotionalien, bastelte eilends etwas rotes Tuch an, und kurz nach Abpfiff schwoll die Innenstadt vor Hupkonzert. Eine Stadt in Schwarz-Gelb-Rot - den belgischen Farben. Man weiß ja, was gemeint war.

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