Interview mit Historiker Schoeps "Fünfzig Jahre Demokratie bedeuten gar nichts"

Der Fall Hohmann - Ausrutscher oder typisch deutsch? Der Historiker Julius H. Schoeps über neue Studien und alte Ressentiments.

Das Interview führten die stern-Redakteure Peter Sandmeyer und Gerda Marie Schönfeld.

Herr Schoeps, Sie schreiben in Ihrem Buch: "In der Öffentlichkeit kann man heute wieder antijüdische Vorurteile äußern, ohne dass dies irgendwelche Folgen hätte." Der Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, sagt hingegen: "Antisemitismus ist hierzulande und heutzutage karriereschädigend." Beweist nicht die Affäre Hohmann, dass er Recht hat?

Fälle wie Hohmann und Möllemann beweisen, dass man stolpern kann. Sie beweisen aber nicht, dass Antisemitismus in Deutschland geächtet ist. Es gibt eine Form von Antisemitismus im Alltag, die selbstverständlich geworden ist.

Zum Beispiel?

Die Schändung jüdischer Friedhöfe steht heute unter Vermischtes in der Zeitung. Seit der Wende hat sich die Zahl solcher Vorfälle verdreifacht. Was sagt uns das? Als die Alliierten aus Deutschland abzogen und die Deutschen ihre volle Souveränität wiedererlangten, entdeckten sie auch den Antisemitismus wieder für sich.

Die Zahlen sprechen dagegen. In dieser Woche veröffentlicht der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer die zweite Folge seiner Studie „Deutsche Zustände“. Danach sagen zwar 16,6 Prozent der Deutschen, dass die Juden an ihrer Verfolgung mit schuld seien. Aber eine deutliche Mehrheit von 83,4 Prozent stimmt dem nicht zu. Warum vermuten Sie dennoch einen zunehmenden Antisemitismus?

Die Studien, die ich kenne, stellen 15 Prozent offenen Antisemitismus fest, übrigens fast überall in Europa. Entscheidend ist aber der latente Antisemitismus, und das sind 30 Prozent. Dieser verborgene Antisemitismus wird nach bestimmten Medienereignissen sichtbar, beispielsweise nach der US-TV-Serie "Holocaust". Da gab es, neben der großen deutschen Betroffenheitswelle, auch eine ganze Reihe antisemitischer Übergriffe. Das zeigt: Der unterschwellige Antisemitismus kann sehr leicht aktiviert werden. 50 Jahre Demokratie bedeuten da gar nichts.

Dann müsste sich das in Wahlentscheidungen niederschlagen. Tatsache ist aber, dass Rechtsparteien wie NPD oder Republikaner kaum noch zwei Prozent erreichen. Spricht das nicht gegen Ihre These?

Nein. Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Phänomen und findet sich in allen Parteien. Ein Antisemit trifft seine Wahlentscheidung nicht aufgrund dieses einen Vorurteils. Er hat viele Vorurteile.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Warum trotzt Antisemitismus so beharrlich jeder Aufklärung?

Weil wir es in Deutschland zu tun haben mit einer kollektiven Bewusstseinskrankheit. Die ist nicht heilbar.

Auch da widerspricht Ihnen der Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz. Er sagt: "Es gibt keinen speziellen deutschen Antisemitismus."

Richtig. Antisemitismus ist ein europäisches Phänomen. In Deutschland ist es aber bekanntermaßen explodiert. An den Folgen laborieren wir bis heute.

Was ist Hohmann? Rechtspopulist? Antisemit? Revanchist?

Von allem ein bisschen! Hohmann ist klug genug, die Wirkung einer Rede einzuschätzen. Er hat ganz bewusst gezündelt und damit die Erwartungen seiner Zuhörer bedient. Ich warne davor, Antisemitismus als Vorurteil zu unterschätzen. Das hat sich verselbstständigt. Antisemitismus kommt heute auch ohne Juden aus.

Und ist trotzdem ein so großes Problem?

Ja. Die Deutschen glauben, sie hätten den Antisemitismus überwunden. Dennoch werden sie mit den alten Stereotypen in ihren Köpfen nicht fertig.

<Trotz langjähriger Vergangenheitsbewältigung gibt es für viele junge Deutsche eine zweigeteilte Erinnerung. Die Nazis waren immer die anderen, aber niemals der eigene Opa. Was ist schief gelaufen?

Erst mal nichts, wenn man bedenkt, dass jeder Enkel seinen Opa lieb haben will. Beispiel: Die Eltern eines Studenten haben ein Geschäft übernommen von den Großeltern. Die Kinder ahnen, dass etwas mit dem Geschäft nicht stimmt: Haben nicht von jeder arisierten jüdischen Firma drei "arische" Familien profitiert? Nun bohrt es in den Enkeln, und mancher fängt an, unbequeme Fragen zu stellen. Das ist doch ein positives Zeichen. Allerdings bezweifle ich, dass in breiten Bevölkerungskreisen eine solche Vergangenheitsbewältigung stattgefunden hat.

Der Holocaust liegt fast 60 Jahre zurück. Hat ein deutscher Jugendlicher heute das Recht, sich davon unbelastet fühlen?

Natürlich. Er steht nicht in einer Tradition von Schuld, wohl aber von Verantwortung. Er ist Mitglied eines Kollektivs, und er muss sich mit der Geschichte dieses Kollektivs auseinander setzen.

Treffen Sie selbst auf antisemitische Vorurteile?

Ja. Ständig. Der letzte Brief kam gestern.

Wie schnell man sich den Vorwurf des Antisemitismus einhandeln kann, haben Sie kürzlich selbst erfahren. Sie wurden während des Wahlkampfs in der jüdischen Gemeinde zu Berlin als „deutschnationaler Antisemit“ beschimpft, weil Sie einen bestimmten ostjüdischen Typus als „Spekulanten und Geschäftemacher“ bezeichnet haben.

Ich nehme mir als Wissenschaftler die Freiheit, Tatsachen beim Namen zu nennen.

Hätte ein Nichtjude das gesagt?

...wäre wahrscheinlich der Teufel losge-wesen.

Israel wird in den deutschen Medien täglich rauf und runter kritisiert. Dennoch behaupten viele Deutsche, man dürfe beim Thema Israel ja nicht mal den Mund aufmachen. Woran liegt das?

Weil das permanent schlechte deutsche Gewissen immer Wege sucht, sich zu entlasten.

Sehen Sie sich als Holocaust-Überlebender?

Ja und nein. Ich bin zwar 1942 in Schweden geboren, im Exil meiner Eltern - also, wenn man so will, ein Überlebender. Aufgewachsen bin ich aber im Nachkriegsdeutschland. Ich bin ein Jude, der sich als deutscher Staatsbürger begreift.

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