Professor Norbert Leygraf über die Risiken psychiatrischer Gutachten. Leygraf (48) ist Gutachter und Forensischer Psychiater in Essen
Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.» Diese gutachterliche Binsenweisheit hat nun auch den Bundeskanzler eingeholt, der feststellen muss, dass seine Vorhersagen über die Zahl der Arbeitslosen am Ende nicht zutreffen werden. Was liegt da näher, als die Diskussion zu vermeiden, indem man die Prognosen anderer an den Pranger zu stellen versucht?
Von der unverständlichen Liberalität eines »Gutachterkartells« hat der Kanzler gesprochen, als ob die Sachverständigen einen Geheimbund zum Schutze von Kinderschändern gegründet hätten. Dabei zeugt diese Unterstellung von einer Unkenntnis der Aufgabenverteilung zwischen Gutachter und Gericht, die bei dem ehemaligen Strafverteidiger Gerhard Schröder mehr als erstaunt. Prognose-Gutachten treffen keine Entscheidungen darüber, ob die Entlassung eines Straftäters verantwortet werden kann, sondern beschreiben die Gefahrenmomente, die bei diesem Straftäter noch oder vielleicht auch nicht mehr bestehen. Was darauf folgt, ist eine Güterabwägung: Welche Gefahr darf man der Gesellschaft zumuten?
Die Entscheidung hierüber liegt allein in der Verantwortung der Gerichte, aus der man diese nicht entlassen darf. Der Gutachter soll eine Aussage darüber treffen, inwieweit die »durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit« eines Täters noch fortbesteht
und ob nach einer Entlassung noch rechtswidrige Handlungen »zu erwarten« sind. »Erwarten« heißt aber nicht »wissen«. Es gibt keine Sicherheit. Niemand kann in die Zukunft schauen, weder Wirtschaftsexperten noch Psychowissenschaftler - und auch kein Kanzler.
Dabei arbeiten Gutachter nicht in einem rechtsfreien Raum. Natürlich haften sie nicht schon dann, wenn sich die Prognose im Nachhinein als unzutreffend erweist. Der Gutachter haftet aber durchaus, wenn er die Prognose fehlerhaft - also entgegen den Regeln - erstellt hat. Dabei bedeutet Haften unter Umständen eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung.
Prognosetafeln reichen nicht
Einigkeit besteht in der Zunft, dass der Rückgriff auf statistische Prognosetafeln nicht ausreicht. Entscheidend ist, wie hoch die Gefahr im konkreten Einzelfall ist. Hierzu ist eine sorgfältige Analyse der Hintergründe der Straftaten erforderlich, wobei man sich nicht auf die Angaben des Täters verlassen darf, sondern auch die früheren Ermittlungsakten studieren sollte. Es folgt die Untersuchung zwischenzeitlicher Veränderungen in der Täter-Persönlichkeit. Schließlich sind die Lebensbedingungen zu berücksichtigen, mit denen der Täter nach der Entlassung konfrontiert würde. Hier liegt der wesentliche Schwachpunkt aller Vorhersagen: Menschliches Verhalten ist auch von situativen Faktoren beeinflusst - wie sich die Arbeitslosenzahlen auch nicht unabhängig von ökonomischen Rahmenbedingungen entwickeln.

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Die Qualität psychiatrischer Gutachten ist in der Vergangenheit häufig beklagt worden - nicht zuletzt von den Psychiatern selbst. Vor allem mangelte es am Transfer neuer Erkenntnisse in die Alltagspraxis. So war in der Wissenschaft schon lange bekannt, dass das Wohlverhalten in der Anstalt prognostisch gerade bei Sexualstraftätern kaum von Belang ist. Dennoch hatten Täter, die ihre Zelle sauber hielten und den Anstaltsgarten pflegten, eine gute Chance, günstig beurteilt zu werden.
Deutliche Verbesserungen
Hier haben sich mittlerweile durch intensive Fortbildungsmaßnahmen deutliche Verbesserungen ergeben. Seit Jahren fordert die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde eine standesrechtlich geregelte Bezeichnung »Forensische Psychiatrie« für Gutachter, die eine spezielle Fortbildung absolviert haben. Bislang waren diese Bemühungen leider erfolglos. Hier ist jede politische Unterstützung willkommen!
Schließlich: Der Vielzahl gesetzlich vorgeschriebener Gutachten steht eine zu geringe Zahl qualifizierter Gutachter gegenüber. Dies ist auch Folge des 1998 - mit Unterstützung der SPD - verabschiedeten Gesetzes zur »Bekämpfung von Sexualdelikten«. Dass man in diesem Gesetz eine vermehrte Einholung von Prognosegutachten vorgeschrieben hat, wurde schon im Gesetzgebungsverfahren als kaum umsetzbar kritisiert.
Auch wenn Prognosen schwierig sind: Es wird in Zukunft nicht einfacher, gute Leute für diese Tätigkeit zu gewinnen, wenn sie für ihre schwierige Arbeit derart abgekanzlert werden.
Norbert Leygraf