Es gibt kein Zurück: "Wenn ihr hier abrutscht, stürzt ihr in den Abgrund", ruft Rich Rudow. Normalerweise ist der erfahrene Bergsteiger immer cool, aber er weiß nur zu gut, dass man sich an dieser Stelle nicht die kleinste Unachtsamkeit erlauben darf. Wir befinden uns auf einem Felsvorsprung der Great Thumb Mesa, einem Hochplateau, das wie der Bug eines gigantischen Schiffes aus dem Südrand des Grand Canyons herausragt. Etwa 1000 Meter über dem Fluss Colorado.
Es handelt sich um eine der entlegensten Regionen des Canyons, die selbst von ausdauernden Wanderern nur selten erreicht wird. Direkt vor uns verschwindet der Felssims, auf dem wir die vergangenen Tage gewandert waren, in einer Einbuchtung der Canyon-Wand. Wir müssen auf einem steilen Schotterhang weitergehen und aufpassen, dass wir nicht abrutschen.
Owl Eyes ("Eulenaugen") wird diese Stelle auch genannt, weil dort zwei große, ovale Vertiefungen in der Felswand zu sehen sind. Man hat wirklich den Eindruck, als würde man von einem gigantischen Raubvogel beobachtet, der jeden Moment angreifen könnte.
Das Kronjuwel der US-Nationalparks
Es ist halt auch eine ziemlich unvernünftige Idee, den Grand Canyon von einem Ende zum anderen zu durchwandern. Schließlich gibt es weder ein ausgebautes Wegnetz noch einzelne Pfade, die sich über den kompletten Nord- oder Südrand erstrecken würden. Am einfachsten ist es, die Strecke mit dem Boot auf dem Colorado zurückzulegen, der sich durch den Canyon schlängelt – 450 kurvenreiche Kilometer lang.
Mit einem Boot war auch der Forscher John Wesley Powell unterwegs, der im Sommer 1869 die erste dokumentierte Durchquerung des Canyons geleitet hatte. Nach seiner Expedition vergingen jedoch mehr als hundert Jahre, bis ein Mensch den Canyon zum ersten Mal zu Fuß durchquerte. In dieser Zeit entwickelte sich der Grand Canyon von einem Waldschutzgebiet zu einem Nationaldenkmal.
Heute ist er das Kronjuwel der US-Nationalparks und wohl eine der berühmtesten Landschaften weltweit. Der Canyon wurde zum Urlaubsziel für Millionen Familien und zu einer Ikone, die für die grenzenlose Freiheit des amerikanischen Westens steht.
Ein Nationaldenkmal in Gefahr
Seit der Grand Canyon ins amerikanische Bewusstsein getreten ist, ruft er im Menschen vor allem zwei Reaktionen hervor: den Drang, die Natur zu schützen, und das Verlangen, dort möglichst viel Geld zu verdienen. Wir wollten uns nicht selbst etwas beweisen, sondern während der Tour erkunden, wie es um die Zukunft des Canyons bestellt ist. Medien und Naturschützer warnen schließlich vor gigantischen Immobilienprojekten, Seilbahnen, Uranminen und ausgedehntem Hubschrauber-Tourismus, die das Naturweltwunder bedrohen.
Auf unserer Wanderung stellen wir schnell fest, dass die Berichte über die aktuelle Bedrohung des Grand Canyons nicht übertrieben sind. Je mehr Projekte wie Tusayan, ein Dorf, in dem eine Luxusferienanlage entstehen soll, die "Escalade Tramway", eine Seilbahn, die Bau-Unternehmer aus Scottsdale zwischen dem Ostrand des Canyons und dem Navajo-Reservat errichten wollen, oder eine "Helikoptergasse" für Touristen genehmigt und erfolgreich betrieben werden, desto größer wird die Gier in der Region. Weitere Erschließungsprojekte könnten folgen.
"Wenn man die enorme Landschaft betrachtet", sagt der Naturschützer Clark, "kann man sich kaum vorstellen, dass der Mensch in der Lage ist, sie zu vernichten. Aber jeder Einzelne dieser Prozesse vermindert die majestätische Aura des Canyons. Zusammengenommen nehmen sie der Landschaft das, was sie so einzigartig macht: ihre Fähigkeit, uns Demut zu lehren. Denn der Canyon zeigt uns, wie klein wir doch sind im Vergleich zu den Kräften, die diesen Planeten geformt haben. Hier spüren wir, dass wir nicht der Mittelpunkt der Welt sind."
Gekürzte Fassung aus "National Geographic Deutschland", Ausgabe September 2016, www.nationalgeographic.de