Thierbach in Tirol Hinter den Bergen im Winterwunderland

Von Petra Mikutta
Wo die Piste an der Zwergschule endet, wo Kälbchen Stars des Nachtlebens sind und wo Engel im Schnee erscheinen, das ist Thierbach in Tirol. Ein modernes Wintermärchen.

Damals, als ich Schneeflocken mit herausgestreckter Zunge begrüßte und die Augen zusammenkniff, wenn der Himmel spitze Kristalle nach mir schleuderte, weil ich sie für Giftpfeile der bösen Schneekönigin hielt, damals, als ich mich rücklings auf jede frisch verschneite Wiese warf, um mit rudernden Armen und Beinen weiße Schutzengel zu malen, damals glaubte ich fest daran, dass es einen Eingang in die Schneekugel geben musste, die eines meiner Lieblingsspielzeuge war. Jetzt, mehr als ein halbes Leben später, habe ich ihn gefunden.

Denn da steht sie, die rundliche weiße Kirche mit ihrem Zwiebeltürmchen. Da ist die Handvoll Bauernhöfe mit den ausladenden Dächern, den gelb erleuchteten Fenstern, den geschnitzten Läden und Balkonen. Da sind die ordentlich geschichteten Brennholzstapel, die schiefen Zaunpfähle, Ställe und Scheunen. Das Dörflein schmiegt sich an eine schmale Hauptstraße, die sich zwischen Hügeln im Wald verkriecht. Die Szene ist großzügig mit Zuckerguss und weißen Meringuehäubchen dekoriert, und der Himmel ist schwarze Pappe, von Stecknadeln zerstochen. Durch die Löcher tropft fahles Licht.

Und da bin ich, der einzige Mensch, inmitten einer Stille, so tief, als würde eine gläserne Glocke den Lärm der Welt aussperren. Mein Atem rauscht, Daunen und Stoff meiner Jacke prasseln bei jeder meiner Regungen, und mein Lächeln macht ein kleines schmatzendes Geräusch.

In Thierbach: 160 Menschen und drei Hunde

Es ist acht Uhr abends in Thierbach. Hier leben rund 160 Menschen, drei Hunde, ein paar Dutzend Hühner, Katzen, Pferde, die niemand gezählt hat, und rund 350 Rinder, seit gestern Nacht eines mehr. Zu Ferienzeiten kommt eine dreistellige Zahl Besucher dazu, sie bleiben weitgehend unsichtbar, denn tagsüber sind sie dem Himmel noch ein paar Höhenmeter näher, auf den 145 Kilometern Piste im Gebiet "Ski Juwel Alpbachtal Wildschönau".

Der Blick durch die rosa Schneebrille auf das 3-D-Gipfelpanorama, auf Wolkenseen im Tal und einen vanillefarbenen Himmel berauscht, und der Duft der feinen Kristalle, aufgewirbelt von der eigenen Fahrt und dem Wind, stimmt euphorisch. Der Tanz mit der Schwerkraft wird vergnügter, geschickter und wilder, je länger er dauert. Abends, nach der letzten Abfahrt, wenn die Doping-Wirkung nachlässt, steht kaum einem der Sinn nach noch mehr Bewegung in Form eines Spaziergangs, der einzigen Aktivität, die das Thierbacher Nachtleben zu bieten hat.

Übernommen aus:

Geo Saison, Heft Dezember 2013, ab sofort für 6 Euro am Kiosk. Hier finden Sie den vollständigen Artikel inklusive Servicteil.

Thierbach ist der kleinste und mit 1175 Metern der höchste Ortsteil der Tiroler Gemeinde Wildschönau, die rund 4000 Einwohner zählt. Im Winter steckt er in einer Sackgasse, die steile westliche Zufahrt ist fast immer gesperrt. Wer zu den größeren Ortsteilen will, nach Niederau, Oberau, Mühltal und Auffach, zu den Läden, Cafés, Schwimmbädern, Sterne-Hotels, Liftstationen, Skiverleihern, Discos, Zebrastreifen, ausgeschilderten Parkplätzen, der muss wenden, am besten vor den Garagen der Freiwilligen Feuerwehr, neben der Kirche der stattlichste Bau im Dorf.

In der Schneekugelwelt

Gute zehn Autominuten dauert die Fahrt auf der Serpentinenstraße, die Thierbach mit dem Tal verbindet. Entlang der Strecke schimmert an klaren Tagen im Norden der Inn als Silberstreifen am Horizont, und im Osten bleckt das Bergmassiv Wilder Kaiser die weißen, spitzen Zähne. Das vornehme Kitzbühel und Kufstein, die "Perle Tirols", sind keine 40 Kilometer, Innsbruck und München kaum 80 und 130 Kilometer entfernt, und in rund drei Stunden erreicht man den Gardasee. Die Schneekugelwelt ist zentral gelegen.

Ich bin hierher gereist, weil ich mich eine Woche vor der Wirklichkeit verstecken will, vor der Schnelligkeit, den Trends. Ich will mein weißes Wunder erleben, ohne auf der Piste ein Design-Outfit tragen oder im Spa oder in der Disco eine gute Figur machen zu müssen. Und jetzt will ich ein niedliches Kalb streicheln. Bisher, nach drei Tagen, haben sich alle Wünsche erfüllt.

Bauerngesichter hinter Biergläsern

Gottfried Mosers Bauernhof, zu dem ich unterwegs bin, ist fünf Gehminuten vom "Gasthof Gradlspitz" entfernt, wo ich wohne. Von meinem Zimmer blicke ich ins Universum, auf den rundlichen Thierbacher Kogel und, weiter entfernt, auf die gezackte Gratlspitz. Dass in der Nacht zuvor eine seiner Kühe gekalbt hat, habe ich aufgeschnappt, als ich nach dem Skitag Apfelstrudel in seinem Gasthof "Sollererwirt" aß, der einen Teil des Hofes einnimmt. Ich stellte mir die Freiheitskämpfer vor, die vor rund 200 Jahren in der Zirbenholzstube um den Kachelofen herumsaßen, Gefolgsleute des Nationalhelden Andreas Hofer. Die Strategien gegen Napoleons Truppen, die sie diskutiert haben mussten, führten gleich dreimal zum Erfolg.

Ich lächelte in die Gesichter der Bauern, die hinter Biergläsern saßen, wohl kaum anders als damals ihre streitbaren Ahnen. Freundliche Augen, knollige Nasen, furchige Haut, Köpfe, die nur mit den Tirolerhüten komplett aussahen, die an Wandhaken und Lehnen hingen. Ob ich das Kalb besuchen dürfe, fragte ich den Wirt. Sicher, sagte Gottfried Moser, und es klang wie "warum?".

Das Kalb kommt zum Schlachter

Natürlich ist nicht einmal meine Wunderwelt perfekt."Deine Jacke zieh lieber aus, sonst stinkt sie tagelang", sagt er zur Begrüßung, und dass ich ihm helfen könne, wo ich schon mal da sei. Ich stecke in einer blauen Stallmontur, strenge mich an, den Geruch gut zu finden, und halte die Taschenlampe. Ihr Kegel tastet haushohe Wände aus Heu ab. "Kannst du dir vorstellen, was das für eine Arbeit ist, das Futter einzubringen? Da bist du den ganzen Sommer beschäftigt. Einige Wiesen musst du mit dem Handmäher mähen, weil sie zu steil sind für den Traktor", sagt Gottfried Moser und reißt mit einer Gabel kleinwagengroße Heubüschel ab.

Durch ein leuchtendes Loch im Boden wirft er sie in den darunter liegenden Stall, fast direkt vor die Mäuler der Kühe. Oben, in der Scheune, sind keine elektrischen Leitungen verlegt, allzu leicht entzündet sich trockenes Gras. Immer wieder komme das vor, vor allem bei Gewittern. Und nicht allzu lange her, da wurde einer bei der Arbeit am Hang vom Blitz erschlagen. Die Männer im Dorf, immerhin 25, seien nicht nur Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr, weil da so schön gefeiert werde, sagt er mit einem knappen Lachen.

Das Kalb steht auf wackeligen Beinen allein in einem kleinen Verschlag und leckt die Gitterstäbe und meine Finger. Ein schönes Abendprogramm, ein neues Leben begrüßen zu dürfen. Warum steht es da ganz allein, Meter entfernt von der Mutter? Nein, da dürfe es nicht hin, sonst wolle es trinken, und das verderbe das Euter, sagt der Bauer. Bald werde er es zum Schlachter bringen, denn es sei ein Stier und für ihn unbrauchbar. Auf dem Heimweg wirbeln Flocken, als hätte jemand die Schneekugel kräftig geschüttelt.

Mutter von 13 Kindern

Und am nächsten Morgen bimmelt vor dem Restaurant des Gasthofs die "Bummelbahn". Wir Skifahrer wischen uns die Brötchenkrümel vom Pullover, stehen polternd von den Tischen auf und staken mit klobigen Stiefeln vor die Haustür. Anna Klingler, die Mutter des Wirts, verabschiedet uns. Sie hilft beim Servieren. Ihr Ziel ist es offensichtlich, dafür zu sorgen, das Skihosenbunde spannen: "Sie müssen noch was essen", sagt sie jeden Morgen, stellt ein zweites Ei ab und hält einem die Wurst- und Käseplatte entgegen.

Anna Klingler geht gebeugt, aber forsch. Ihre Finger sind krumm, aber kräftig. Sie lächelt abwesend, und ihre Augen blicken aufmerksam. Das lange Haar trägt sie als Kranz um ihr Gesicht. Josef Klingler, der Wirt, ist das neunte ihrer 13 Kinder, die sie zwischen 1961 und 1980 zur Welt gebracht und neben ihrer Landwirtschaft mit Zimmervermietung großgezogen hat. "Meine Gäste haben mich immer gefragt, wie ich das mache, mit den vielen Kindern. Die Gäste selbst hatten oft nur ein oder zwei und waren davon schon angestrengt, und bei mir war immer alles ruhig und schön aufgeräumt", erzählte sie.

Und auf die Frage, wie sie das denn gemacht habe, antwortete sie: "Meine Kinder haben sich selber beschäftigt und waren die meiste Zeit draußen, und die Großen passten auf die Kleinen auf. Wir hatten damals keine Zeit, ihnen ein Unterhaltungsprogramm zu bieten."

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