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Turin Welthauptstadt des Design

Congratulazione, Torino. Den Design-Titel hätte man eher Mailand zugetraut. Aber die Wahl vom International Council of Societies of Industrial Design fiel ausgerechnet auf die sich rasant wandelnde Industriestadt.
Von Ludwig Moos

Lange stand Turin im Schatten ihrer prächtigen norditalienischen Schwestern. Aber spätestens mit der Winterolympiade 2006 hat sich die Stadt am Po aufgemacht, ihre neuen Qualitäten ins rechte Licht zu rücken. Der Ort, in der die Fiat-Malocher nach dem Krieg Italiens Wirtschaftswunder anschoben, war als Residenz der mächtigen Savoyer immer auch feineren Genüssen wie den Schokoladenkünsten zugetan.

Die üppige Agenda der "World Capital of Design" mit über 200 Ausstellungen, Kongressen und Workshops zum Thema Design umfasst weit mehr als das gut geformte Produkt, seine Verpackung und mediale Präsenz. Für die Markenikonen der Region, von Alessi bis Olivetti, wie für die fantasievollen Experimente der jungen Gestalter bleibt reichlich Platz. Doch Schwerpunkt ist die Stadt im Wandel.

Klassisch kreativ, nachhaltig innovativ

Den Zeichenstift legt Giorgetto Giugiaro wohl nie aus der Hand. Selbst im Virtual Reality Center, dem War Room des computergestützten Entwerfens bei der Firma Italdesign, verweist der Chef, einst Schüler des legendären Nuccio Bertone, damit zunächst auf die papierne Urskizze. Erst dann läuft auf der CAD-Wand die Entwicklung von Alfa Romeos Coupé Brera, der Schwester des neuen Spider, in Lebensgröße ab - bis hin zum virtuellen Crash Test. Schon früh haben sich die rund tausend Mitarbeiter ins Computer Aided Design eingefuchst, jeder Schritt der Gestalter wird von Ingenieuren begleitet, die alles auf Machbarkeit und Kostenverträglichkeit überprüfen. Allenfalls Pininfarina kann da noch mithalten.

Zu Italdesigns Produktpalette gehören inzwischen Kameras und Telefone, Züge und Yachten, Waschmaschinen und Häuser, doch das Herz des Geschäftes ist immer noch das Auto. Mancher Entwurf blieb Vision, das Firmenmuseum versammelt sie alle, darunter den jüngsten Concept Car Quaranta, dessen kühn gebogenes Dach Solarenergie für den Hybridantrieb liefern soll. Auch im vierzigsten Jahr von Italdesign handhabt Giorgetto Giugiaro seinen Zeichenstift, dem auch der erste Golf entsprang, höchst lebendig.

Unter den Leitmotiven "Geschwindigkeit" und "Traum" feiern zwei große Ausstellungen im Sommer und Herbst die klassische Liaison zwischen dem Automobil und Turin. Nicht minder eng ist die Beziehung der jungen Designer zu ihrer Stadt. Dreihundert Kreative aus hundert kleinen Agenturen haben sich unter dem Label "Turn" miteinander vernetzt, um den postindustriellen Aufbruch mit zu bestimmen. Für sie dient Design "der lokalen Entwicklung, der städtischen Attraktivität, neuen Geschäftszweigen und der internationalen Wahrnehmbarkeit".

Bei einem der "Turner", dem Studio One Off, wird mit Essen gespielt. Für die große Messe des Geschmacks, den Salone del Gusto im Oktober, füllen Anna Cerrocchi und ihre Partner eine Wundertüte des Food Design. Martini trocken als Lutscher, Spaghetti passend portioniert, Schockoladenfinger mit abkaubaren Nägeln. In der Hauptstadt des Piemont, in dem die weiße Trüffel, der Barolo und Slow Food gedeihen, gehört auch der spaßige Umgang mit Speisen einfach dazu.

Das Gestalten der Stadt hat eine starke Tradition. Seit die Savoyer Turin im 16. Jahrhundert zu ihrem Hauptsitz machten, schufen die höfischen Baumeister und ihre bürgerlichen Nachfolger auf einem großzügigen Straßenraster ein reiches Ensemble an Palästen, Kirchen, Arkaden und Plätzen. Extravaganzen wie die Mole Antonelliana blieben die Ausnahme. Um 1860 als Synagoge geplant, lief der Bau aus Ziegeln und Stein völlig aus dem Ruder und geriet mit 167 Metern schließlich zum markanten Wahrzeichen der Stadt. In der mächtigen Kuppel, durch die ein frei aufgehängter Fahrstuhl die Besucher zur Aussichtsplattform trägt, zeigt das Museo Nazionale del Cinema eine der üppigsten Sammlungen aus der Welt des Films.

Zukunft mit Vergangenheit

Vom Monte dei Cappuccini, einem der grünen Hügel jenseits des Po, präsentieren sich Mole und Altsstadt vor der grandiosen Kulisse der Alpen. Als sei die untadelige Lage der Stadt nicht Reiz genug, hat das potente Geschlecht der Savoyer an der Peripherie Lustschlösser im Dutzend gestreut. Rivoli zum Beispiel, das mit kühnen Einbauten zum Museum für zeitgenössische Kunst wurde. Oder Venaria Reale mit seinen schier endlosen Barockgärten, in dessen Raumfluchten die Taten der Herrscherfamilie mit ein wenig Hilfe von Peter Greenaway ins Bild gerückt werden. Im Sommer des Designjahres sind unter dem hohen Gewölbe des ehemaligen Marstalls Italiens Spitzenprodukte aus den letzten 50 Jahren zu sehen, alle ausgezeichnet mit dem Compasso d'Oro.

An ihrer Zukunft arbeiten die Turiner seit zwanzig Jahren mit Nachdruck. Und sie nutzen dabei konsequent die Hinterlassenschaften der harten, schmutzigen Industrie. Den symbolträchtigen Anfang machte das Fiatwerk Lingotto aus den 1920ern. Nach den Plänen von Renzo Piano verwandelte sich der lang gestreckte Bau in ein multifunktionales Zentrum mit Geschäften, Kinos, Restaurants, Kongressräumen und Messehallen. Im Luxushotel Art+Tech schauen die Gäste durch die bodentiefen Fenster, die früher die Autoschrauber optimal mit Licht versorgten, auf frisches Grün, Bahngeleise und die bunten Quader des olympischen Dorfes, rasch zu erreichen über die am signalroten Bogen des Arco Olimpico aufgehängte Fußgängerbrücke. Auf das Dach, auf dem bis 1982 die Werksfahrer ihre Runden drehten, hat Piano einen technoiden Schrein für die Kunststiftung der Agnellis und La Bolla gesetzt, eine blaugrüne Glaskugel mit Hubschrauberlandeplatz für Meetings der Fiatspitze.

Bewegung im Zeichen der Schnecke

Beim Nordausgang des Lingotto geht es nach Eataly. In die alten Gemäuer einer Wermutdestille ist ein Supermarkt kulinarischer Köstlichkeiten eingezogen. Mit frischen Waren und gepflegten Getränken, meist von kleineren Erzeugern des Landes, in hoher Qualität und zu fairen Preisen. An langen Tresen kann verkostet werden, ein dichtes Programm hilft beim Entwickeln der Esskultur.

Hinter diesem verführerischen Angebot steckt die Philosophie von Slow Food: gegen die hochindustrielle, globalisierte Vermarktung von Lebensmitteln lokale Produkte, Biodiversität und die Vielfalt des Geschmacks zu stärken. Womit Carlo Petrini und ein paar Freunde in Bra, eine Autostunde südlich von Turin, vor einem Vierteljahrhundert begannen, das hat sich längst zu einer weltweiten Bewegung ausgewachsen. In der kleinen Stadt am Rande der Weinregion Langhe hat Slow Food Italien noch immer sein Hauptquartier, noch immer schwebt in der Osteria del Boccondivino, dem Gasthaus zum göttlichen Happen, der Geist der Gründer über den Töpfen und Pfannen.

Die betuchteren Besseresser können sich in der Agenzia di Pollenzo, wenige Kilometer außerhalb von Bra, einquartieren. In den neogotischen Mauern eines ehemaligen Mustergutes der Savoyer hat Slow Food mit großzügigen Stiftern die erste Universität für gastronomische Wissenschaften eingerichtet. Ein nobles Hotel, zwei Restaurants und die Banca del Vino, die in ihren Gewölben alle Weine Italiens lagert, haben auch noch Platz gefunden.

In hundert Ländern ist Slow Food inzwischen zuhause. Zeitgleich mit ihrem Salone Internazionale del Gusto, zu dem sich im Oktober Produzenten und Konsumenten in den Messehallen des Lingotto treffen, erweitert die Organisation mit dem Logo der Schnecke ihr Design nachhaltiger Nahrungsketten: Bei Terra Madre tauschen sich Züchter, Farmer, Händler und Köche aus, mit 1500 Abgesandten von Food Communities aus aller Welt.

Achse des Wandels

Mit der Eröffnung der Ausstellung "Torino 11. Biografia di Una Città" zum Weltkongress mit 10.000 Architekten entfaltete Turin auch multimedial die Transformation der Stadt. Viele der Areale im Wandel sind noch im Werden. Bis 2011, zur Feier der 150 Jahre seit der Einigung Italiens, will die erste Hauptstadt der neuen Nation die wichtigsten Projekte vollendet haben.

Der Ort für Torino 11, die Officine Grandi Riparazioni, ist gut gewählt. Die verlassenen Werkshallen der norditalienischen Eisenbahnen, in denen Kunst und Kultur auf Dauer einziehen sollen, haben den rauen Charme des Industriezeitalters. Einen Teil der Gebäude nutzt die nahe Technische Hochschule als Brutstätten für junge Erfinder, in Zusammenarbeit mit Firmen wie Microsoft. Gleich dahinter baut Mario Bellini ein futuristisches Kulturzentrum mitsamt der neuen Stadtbibliothek. Und auch das alte Gefängnis neben den Grandi Riparazioni wartet auf seine kulturelle Umwidmung.

All das gehört zu dem ehrgeizigsten Vorhaben der Stadt. Mit der Spina Centrale zieht sie sich ein neues Rückgrat ein. Auf sieben Kilometern werden die Bahngleise, die Turin von Nord nach Süd durchtrennt haben, überbaut. Entlang der neuen Achse entstehen, oft auf den Flächen aufgegebener Fabriken, Wohnhäuser, Firmensitze, öffentliche Bauten und Parks. Bei der Station Porta Susa wird in zwei Jahren eine fast vierhundert Meter lange Galerie aus Stahl und Glas den neuen Hauptbahnhof aufnehmen, von dem aus die Hochgeschwindigkeitszüge nach Paris, Lyon und Mailand starten. An seiner Flanke zieht Renzo Piano für die Großbank Sanpaolo einen repräsentativen Sitz empor, fast bis zur Höhe der Mole Antonelliana.

Aus dem zwanzigsten Stock des Wohnblocks, der während der Olympiade Herberge der Journalisten war, nimmt die Revitalisierung der riesigen Industriebrache am Flüsschen Dora Formen an. Der Umweltpark mit den Labors der Forscher und Techniker, denen man auf die begrünten Dächer steigen kann, Hochhauscluster und Einkaufszentren, dazu jede Menge Quartiere für Startups und junge Unternehmen der Zukunftsbranchen. Einst musste die Dora für ein Fiatwerk unter einem Betondeckel verschwinden, nun entsteht an beiden Ufern ein weitläufiger Park, in dem markante Zeichen der Vergangenheit wie der Kühlturm von Michelin oder die Stützen der Stahlkocherei Ingest erhalten bleiben.

Wie eine Kraftstation mit Lüftungsschächten ist aus diesem Gelände die Kirche Santo Volto gewachsen. Im Innern seines starken Baus zitiert Mario Botta die als Antlitz Jesu verehrte Ikone vom Turiner Grabtuch. An Auferstehung erinnert hier vieles.

Weitere Infos

Sehr informativ in allen touristischen Belangen: www.turismotorino.org
Das Programm der Design-Hauptstadt: www.torinoworlddesigncapital.it

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