Das Königreich der Frauen duftet nach Holz und Sägespänen. Die Uferpromenade von Wuzhiluo ist eine Baustelle, erfüllt von Hämmern und Bohren. Gebetsfahnen flattern an Toren, auf Balkonen tanzen Lampions im Wind. Noch eine Woche bis zum Mondfest - das Dorf in den Bergen macht sich schön für seine Gäste. Auf der anderen Seite der Straße schimmert der Lugu-See, eine Fläche aus Schilf. Einer der klobigen Kähne gleitet vorbei, die Zhucaochuan genannt werden, Schweinetrog. Ein Touristenpaar sitzt darin, an den Rudern mühen sich zwei Frauen in bunter Tracht, die Haare aufgetürmt zu mit Perlen geschmückten Frisuren. Einheimische aus dem Volk der Mosuo in der Provinz Yunnan, in dem die Macht in weiblichen Händen liegt.
"Man kann nie wissen", sagt Herr Wind, der an der Veranda seines Gasthauses lehnt. "Manche Mosuo vermieten ihre Trachten an Zugezogene. Und die spielen den Touristen etwas vor." Noch stehen die meisten Zimmer leer in seiner und den anderen Unterkünften, die sich spitzgiebelig am Seeufer reihen. Aber bald werden die Reisebusse vorfahren, und wieder werden ein paar mehr Chinesen als im vergangenen Jahr aus Shanghai oder Beijing herausklettern, um die Welt der Mosuo zu bestaunen.
"Sie machen ein paar Fotos von der Folklore und fahren weiter", sagt Herr Wind. Dabei sei die Wirklichkeit nur Schritte entfernt. Er zeigt auf einen Pfad, der vorbei an Lehmmauern zum alten Teil des Dorfes Wuzhiluo führt. Hinauf zu einer Gesellschaft, in der Mütter das Sagen haben und Väter keine Bedeutung. Die keine Hochzeiten kennt, keine Scheidungen, und in der die Geburt einer Tochter ein Glück, die eines Sohnes eine Bürde ist. Keine 48 Stunden zuvor saß ich im Taxi irgendwo in der Millionenmetropole Chengdu, Hauptstadt der Provinz Sichuan. Hinter den Scheiben verstopfte Kreuzungen, Reißbrettstraßen und eine Mauer aus Smog. Neben mir Formulare.
Unterlagen-Memory und ein rätselhaftes Gebot
Mit dem aus Hongkong stammenden Fotografen Justin Jin kam ich nach China, um an einem Reise-Experiment teilzunehmen, wie es für ausländische Touristen in der Volksrepublik bisher nicht möglich war: Wir wollten mit dem Mietwagen durchs Land fahren, ohne Gruppe, Fahrer oder Reiseleiter. Der Hamburger Veranstalter "Chinatours" hatte das Konzept entwickelt, dessen kompliziertester Teil der Erwerb eines Führerscheins war. Eine deutsche oder internationale Fahrerlaubnis ist auf chinesischen Straßen nämlich nichts wert.
Wir fuhren in ein großes Krankenhaus, wo wir von Station zu Station geschickt und schließlich einem Arzt zum Gesundheits-Check vorgeführt wurden. Die Erwartungen an unseren körperlichen Zustand waren maßvoll: die Arme ausstrecken, die Handflächen im und gegen den Uhrzeigersinn kreisen lassen, dasselbe mit den Füßen tun und zuletzt die Hosen lupfen. Keine Prothese, kein Holzbein - der Arzt zwinkerte uns anerkennend zu.
Im Straßenverkehrsamt am anderen Ende der Stadt spielte ein strenger Beamter im rosa Hemd eine Stunde lang Memory mit unseren Unterlagen: Führerscheine plus Kopie, Reisepässe plus Kopie, Visa plus Kopie, Hotelregistrierungen, Polizeimeldebestätigungen und medizinische Gutachten. Passfotos wurden zurückgewiesen - mein Kopf sei zu groß, sagte der Beamte, der meines Kollegen zu klein -, neue Fotos und Kopien gefertigt, Sachbearbeiter hinzugezogen. Endlich gab uns der Mann eine eingeschweißte Karte und letzte Weisungen: Beachten Sie die Verkehrsregeln! Fahren Sie bei Regen nicht zu schnell! Zuletzt das rätselhafte Gebot: Respektieren Sie die Minderheiten!
Im Land der Mosuo
Vielleicht hatte er das gesagt, weil unser Ziel Yunnan war. Das Land südlich der Wolken, in dem es schneebedeckte Sechstausender gibt und tropischen Regenwald, Gletscher und Vulkane. Zudem sollen Angehörige von 26 der insgesamt 55 anerkannten Ethnien Chinas in der Provinz leben - die Völker der Mosuo, Naxi, Bai und Dai, der Pumi, Jingpo, Lisu. Unseren Weg hatten 750 Jahre zuvor schon die Reiterhorden des Mongolen Kublai Khan genommen, um die isolierten Königreiche im Südwesten zu unterwerfen. Wo er sein Lager aufgeschlagen hatte, machten auch wir Station: im Land der Mosuo am Lugu-See, 2700 Meter hoch in den Bergen.
In der westlichen Welt wäre Li La Cuo wohl eine Dame auf dem Altenteil, nicht mehr groß beteiligt am Gang des Lebens. Am Lugu-See ist sie die unumstrittene Herrscherin der Familie. Ihr Zimmer ist das größte im Haus, das mit der Feuerstelle. Dort sitzt Frau Li mit zweien ihrer vier Töchter, nachdem sie gerade noch im Hof Kartoffeln sortiert hat - die guten für die Familie, die schlechten für die Schweine. Die Frauen reichen uns Kekse und gesalzenen Tee. Mosuo mögen es salzig.
Bezauberndes Weltkulturerbe Lijiang
Ihr Sohn streicht irgendwo draußen herum, der einzige Mann im Haushalt. Männer spielen keine große Rolle, vor allem Väter nicht. Ehe und Liebe gelten als gefährlich für die Stabilität einer Familie, deshalb führen die Eltern eines Kindes kein gemeinsames Leben, sondern bleiben bei ihren Verwandten. Die Mütter ziehen die Kinder auf. Der Erzeuger kennt keine Rechte, keine Pflichten. Nur nachts darf er die Frau in ihrer Schlafkammer besuchen, bei Sonnenaufgang kehrt er zurück nach Hause. "Wanderehe" nennen die Mosuo das - manche halten nur eine Nacht, andere ein ganzes Leben.
Frau Li ist 66 Jahre alt, möglicherweise, genau kann sie das nicht sagen, wie sie auch niemals Lesen und Schreiben gelernt hat. Über meine Fragen muss sie lachen, ein Lachen, das jünger klingt als das der Töchter, eine klingende Antithese zu ihren tiefen Falten. Ja, sie habe sich immer mehr über die Geburt eines Mädchens als eines Jungen gefreut, sagt sie. Über den Vater der Kinder möchte sie nicht sprechen, lieber schenkt sie Tee ein und stochert in der Glut. "Unser Bruder draußen könnte uns hören", erklärt eine Tochter. "Das Thema schickt sich nicht für seine Ohren." Ihre und die Kinder der Schwestern leben ebenfalls im Haus, die Väter sind ein Geheimnis.
Am nächsten Morgen brechen wir auf nach Lijiang, 230 Kilometer südlich. Die Straße windet sich die Ausläufer des östlichen Himalaya empor. Nebel liegt über Nadelwald, unter uns glitzert der See wie geschliffenes Eis. Am Wegrand kampieren Arbeiter. Sie bauen eine breitere Straße. Das Hämmern und Sägen, das wir am Seeufer gehört haben, erweist sich als Leitmotiv der Reise: China baut nimmermüde. Unterwegs, zwischen hinreißenden Landschaften, passieren wir halbfertige Straßen und Dämme, in den Städten Wälder aus Kränen. Oft müssen wir ausweichen auf schlammige Pisten, die mit unserem Geländewagen gerade noch zu schaffen sind. Schlaglöcher, tief wie Gräber, tun sich vor uns auf, ungesicherte Brücken enden in der Mitte einer Schlucht.
Überholen ist eine Sache des Gottvertrauens
Als wir in eine Ebene hinunterkommen, scheint die Sonne. Links und rechts wogen grüne Reisfelder, manche blasszart wie Jade, andere leuchtend wie Papageienflügel. Ich lenke den Wagen, während Justin auf dem Rücksitz seine Fotoausrüstung sortiert. In den Dörfern ziehen wir halb verdutzte, halb verzückte Blicke auf uns: So weit also hat es China schon gebracht. Ein Westler arbeitet für einen der Unseren als Chauffeur.
Am Nachmittag überqueren wir den Jangtsekiang und erreichen Lijiang, einst Knotenpunkt der südlichen Seidenstraße. Die Altstadt ist ein Irrgarten aus mit Basalt gepflasterten Gassen zwischen schwarzen Ziegeldächern. Bogenbrücken spannen sich über Kanäle. Auf einem Markt verkaufen Frauen Hühnerfüße und lebende Bienenlarven, die sie aus Waben pflücken. Am Horizont leuchtet weiß der Gletscher des Jade-Drachen-Schneebergs. Lijiang ist berührend schön, Weltkulturerbe - und ein lärmendes Disneyland chinesischer Touristen. Die Souvenirgeschäfte scheinen alle dasselbe zu verkaufen: Batikschals, zweifelhaften Silberschmuck, Plastikkämme aus garantiert echtem Yakknochen.
Für eine Weile rollen wir hinter einer Reisebus-Karawane auf einer schnurgeraden Straße in Richtung Süden. Yunnan bedeutet "südlich der Wolken", was nichts anderes meint als "verdammt weit weg". Wir haben uns vorgenommen, die Provinz bis an die Grenze zu Myanmar zu durchqueren. Trotz der frühen Stunde hält uns der Fahrstil unserer Mitreisenden wach. Überholen ist in China eine Sache des Gottvertrauens, mit dem Rest muss der Gegenverkehr fertigwerden. Einmal kommt uns ein Linienbus entgegen, der wie ein Reiter der Apokalypse stur in der Mitte der Fahrbahn ausharrt und allen Gegenverkehr an den äußersten rechten Rand zwingt. Als die Straße sich ohne Vorwarnung in eine breite Buckelpiste verwandelt, geht der Autostrom endgültig in einem fröhlichen Chaos auf, in dem jeder jeden überholt.
Dali: Stadt der Drei Pagoden
Die traurige Seite dieses Fahrstils lernen wir in einer Stadt auf dem Weg kennen: Eine Menschenmenge hat sich um einen Motorradfahrer versammelt, der leblos auf einer Kreuzung liegt. In kaum einem anderen Land sterben so viele Menschen im Straßenverkehr wie in China, Statistiken sprechen von 100.000 Toten im Jahr. Immer mehr Leute können sich ein Auto leisten, die Fahrpraxis kommt den Zulassungen nicht hinterher.
Am Nachmittag erreichen wir Dali, die Stadt der Drei Pagoden. Die weiß verputzten Türme mit ihren geschwungenen Zwischendächern sind uns als Foto in jedem Restaurant Yunnans begegnet. Die zentrale Pagode, 70 Meter hoch, wurde im 9. Jahrhundert erbaut. Die Arbeiter schichteten Sand um jedes neu errichtete Stockwerk und arbeiteten sich so immer weiter hoch. Am Ende schaufelten sie den eingegrabenen Turm wieder frei. Die Pagoden, erzählt ein Fremdenführer, sollten die Stadt vor dem Drachen im Erhai-See beschützen. Er weist auf einen blauen Streifen im Osten. Dort, am Seeufer, sind wir mit einem Künstler verabredet. H. N. Han steht ganz in Weiß gekleidet in seinem weißen Atelier, an den Wänden großflächige, abstrakte Tuschemalerei. Das einzig Farbige im Raum sind seine roten Hosenträger. Den Kopf ziert ein Irokesenschnitt, an den Füßen trägt er schwarze Schnürstiefel. Der 73-Jährige sagt Erstaunliches: "Dali ist für mich wie New York", zum Beispiel. Nicht so groß, aber ebenso kosmopolitisch. Tatsächlich war Dali schon früh ein Ziel westlicher Backpacker, eine Gasse in der Altstadt heißt bis heute "Straße der Ausländer". "Dort kann ich Cappuccino trinken wie im Village", sagt Han, "und wenn ich hier auf die Promenade blicke, sehe ich so viele Nationalitäten wie vor meinem Loft in Soho."
Letzte Etappe: Ruili, Stadt der Jadehändler
Han hat Kunst in Taiwan studiert und emigrierte in den Sechzigern nach New York. Er war befreundet mit Pop-Art-Künstlern wie Andy Warhol und Roy Lichtenstein. Zum Jahrtausendwechsel kehrte er zurück nach China. "Inzwischen ist vieles besser", sagt er, "heute kann ich unbehelligt arbeiten." Er wisse, dass dies nicht für jeden gelte. Der vom Regime verfolgte, zeitweilig inhaftierte Konzeptkünstler Ai Weiwei etwa sei ein guter Freund. "Aber sein Weg ist nicht meiner. Ich habe eine andere Lebensgeschichte als die jungen Leute, die jetzt etwas ändern wollen."
Stattdessen hat er vor einem Jahr aus seinem Haus am See ein Museum gemacht. Es ist ein monumentaler weißer Kubus aus Beton, ein Loft in der Natur. Doch auch hier: Links und rechts hämmern Arbeiter auf den Firsten neuer Gästehäuser. "Der Lärm? Das stört mich nicht", sagt Han. "Ich bin aus Soho."
Mein Glück auf dieser Reise ist, dass ich einen chinesischen Mitfahrer habe. Justin kann nicht nur dolmetschen, sondern auch Straßenschilder lesen. Dazu hilft uns Technik: Ein "Chinatours"-Team hat die Strecke per GPS-Gerät aufgezeichnet. Auf dem iPad sehen wir die vorgegebene Route und unsere Position. Das macht es auch einfacher, ab und an die großen Straßen zu verlassen. Einmal folgen wir dem Lauf des Mekong stromaufwärts, bis uns die Dämmerung überrascht. Bei der Rückfahrt, auf einer viel zu schmalen Straße an der Kante einer Schlucht, kommen uns drei schnaubende, ölschwitzende Lastwagen entgegen. Wir rangieren in völliger Dunkelheit Zentimeter am Abgrund, während die Fahrer uns laut verfluchen. Als wir endlich ein Motel erreichen, schwören wir, nie mehr bei Nacht zu fahren.
Zwischen palmengesäumten Alleen und Rikscha-Taxen
Die letzte Etappe geht dafür schnell und mühelos. Durch ein gewaltiges Gebirgspanorama führt eine Autobahn so steil bergab, dass es in den Ohren drückt. Nach einem endlosen Tunnel tauchen wir in einer anderen Welt wieder auf: goldene Tempel, Palmen, narkotische Hitze. Bei einem Halt denken wir zuerst, der Keilriemen mache Probleme, aber es ist nur das tausendfache Sirren der Insekten im Dschungelteppich über den Hügeln.
Ruili, die Stadt der Jadehändler, kündigt sich mit einer Polizeikontrolle an: An der Distriktgrenze suchen Beamte das Wageninnere nach Schmuggelware ab. Nach rund 1300 Kilometern Fahrt sind wir am südwestlichen Ende Yunnans angekommen. Dahinter liegt Myanmar.
In den Neunzigerjahren wurden in Ruili Jade und Mangos, vor allem aber Opium und Heroin umgeschlagen. Eine wilde Stadt, bevölkert von Glücksrittern und Prostituierten. Heute macht Ruili einen behäbigen Eindruck - palmengesäumte Alleen, Rikscha-Taxen, Garküchen. Aber noch immer ist da diese Atmosphäre, die nur Grenzstädte kennen - in der Freihandelszone jenseits des Flusses, wo chinesische Händler die Maserung von Jade mit Stablampen prüfen. An der Zollstation, wo Frauen mit fünf Einkaufstüten in jeder Hand auf Durchlass warten. Am Fluss, wo Soldatinnen uns anherrschen, keine Fotos zu machen.
"Willkommen in Myanmar"
Mit Shama Shayi fahren wir aufs Land hinaus. Sie ist eine junge Frau aus dem Volk der Dai, das im Grenzgebiet lebt. "Wir überqueren die Grenze, wann wir wollen", sagt sie. "Viele haben Familie auf der anderen Seite." Wie ihr Vater, den wir in seinem Haus besuchen: ein hagerer Mann mit vielen Tätowierungen, der unter einem Mao-Porträt sitzt und sich mit einem Enkel im Fernsehen "Tom und Jerry" ansieht. Früher lebte er als Mönch in Myanmar, dann gründete er auf der chinesischen Seite eine Familie. "Wenn die burmesischen Soldaten anrücken, kommen die Bauern über die Grenze, um hier ihre Ernte zu verstecken", erzählt er.
Wir machen einen Spaziergang durch die Siedlung, vorbei an Bambushütten und Reisfeldern. Ein warmer Nieselregen hat eingesetzt, Shama Shayi spannt einen Schirm auf. Sie tritt durch eine Pforte, durchquert einen Gemüsegarten und ein Chrysanthemenfeld, zieht etwas Strauchwerk beiseite und hüpft über einen Wassergraben. Ein unbestellter Acker, in der Ferne ein Bauernhaus. Shama Shayi streicht mit der Hand über einen moosbesetzten Grenzstein. "Willkommen in Myanmar", sagt sie.