Als Reporter, der rumkommt in der Welt, wird man oft gefragt: Und? Wo fährst du am liebsten hin? Wenn ich dann "Tel Aviv" sage, sind die Leute enttäuscht. Eine Stadt, die noch keine hundert Jahre alt ist? In der manchmal junge Männer oder Frauen herumlaufen, die eine Bombe unterm Pulli tragen? In der gelegentlich Busse, Pizzerien und Cafés mit Menschen drin in die Luft fliegen?
Sie hätten etwas Exotischeres erwartet, Honolulu oder die Seychellen. Einsame Strände, Palmen, Friede, Freundschaft, Daiquiris. Und jetzt sollen sie in eine laute, nicht sonderlich schöne Metropole fahren, mit chaotischem Verkehr, koscherer Küche und überfüllten Stränden? Keine Stunde von Gaza entfernt?
"Wir haben ein Image-Problem", sagt auch Subliminal, der berühmteste Rapper Israels, "die Leute glauben, wir reiten auf Kamelen, und Busfahren sei lebensgefährlich." Dabei sei das größte Problem in Tel Aviv "einen Parkplatz zu finden."
Tel Aviv geht der Arbeit aus dem Weg
Tel Aviv ist eine junge Stadt, die zu schnell gewachsen ist, und sie benimmt sich auch so. Sie steht spät auf, gibt sich rüpelig und achtet wenig auf ihr Äußeres. Sie geht der Arbeit aus dem Weg und dafür lieber an den Strand, eine Runde Kitesurfen, segeln, flirten, faulenzen. Wenn es Nacht wird, macht sie sich schön. Malt sich an, tanzt bis in die Puppen, geht um halb vier morgens essen und, wenn es hell wird, ins Bett. Gestern ist lang her, morgen lang hin - Tel Aviv lebt, "als ob es kein Gestern und kein Morgen gibt", sagt Mati Broudo, 49, der erfolgreiche Kneipenwirt. Wer in seiner "Brasserie" morgens um drei einen Tisch haben will, muss rechtzeitig reservieren. Das Art-déco-Restaurant ist Treffpunkt für Künstler, Politiker und alle schicken Nachteulen der Stadt. Es ist 24 Stunden lang geöffnet und nur einmal im Jahr, an Jom Kippur, für zwölf Stunden geschlossen. Am Tresen treffen wir DJ Shiri Paamoni, 30, die hektisch in ihre beiden ständig klingelnden Handys spricht. Sie ist sich sicher: "Ein Augenblick Ruhe heißt für uns Stillstand, das wäre der Untergang."
Der Rest des Heiligen Landes schaut fassungslos auf die sündige Stadt am Meer. Wo israelische und arabische Schwule gemeinsam lustige Paraden machen und nicht, wie in Jerusalem, mit Steinen beworfen werden. Wo Leute wohnen, die am Sabbat nicht in die Synagoge gehen, sondern ins "Whisky à gogo". Wo am Sabbat viele Geschäfte offen haben, weil es den Oberrabbinern - anders als den Kirchen bei uns - nicht gelingt, einen Ladenschluss durchzusetzen. Wo man im "Giraffe", einem asiatischen Restaurant, total unkoschere, scharfe Schweinerippchen isst. Wo die Mädchen Hosen tragen, die so tief sitzen, dass Theodor Herzl über seinen exhibitionistischen Judenstaat gestaunt hätte. Nach dem Begründer des Zionismus heißt ein Nachtclub, das "Herzl One" wirbt mit dem Spruch "drink and dance".
Tel Aviv liegt in einer anderen Welt. Dort haben die Orthodoxen, die nur 15 Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen, sich aber ständig in jeden Aspekt des Lebens einmischen, wenig zu melden. Die zweitgrößte Stadt des jüdischen Staates ist eine Art Kreuzberg am Mittelmeer, nicht ganz koscher, nicht ganz sauber, nicht ganz linientreu, aber sehr lebendig. Die Historikerin Dahlit Nemrovsky, 29, kommt aus Jerusalem: "Da wachst du auf und weißt: Heute passiert nichts und morgen auch nicht." Jetzt lebt sie "Gott sei Dank in Tel Aviv, hier ist jeden Tag die Hölle los".
Während des zweiten Libanon-Krieges ging die Party weiter
In Haifa, so heißt ein israelischer Spruch, wird gearbeitet, in Jerusalem gebetet, in Tel Aviv gefeiert. Das war gut zu beobachten während des zweiten Libanon-Krieges, als der Norden von Katjuscha-Raketen beschossen wurde und der Rest des Landes in solidarische Schockstarre verfiel. In Tel Aviv aber ging die Party weiter, man lag am Strand, trank ein Bier und schaute den Militärflugzeugen zu, die im Zweiminutentakt vom nahe gelegenen Sde-Dov-Flugplatz abhoben, tief über den Badenden eine Schleife flogen und dann nach Norden abdrehten, in den Krieg.
"Wir leben hier in einer Blase", sagt Nilli Goren, Kuratorin im Kunstmuseum, "man wirft uns vor, wir hätten keinen Kontakt mit den wahren Problemen des Landes." Aber das sei Quatsch, "wir nehmen die Horrornachrichten, mit denen man überschwemmt wird, nur einfach nicht so ernst." Frau Goren betreut die fotografische Sammlung, ist in Jerusalem geboren und liebt die Stadt, würde aber nie wieder dort hinziehen: "Jerusalem wird immer religiöser und fanatischer, ich bin froh, dass mein Kind dort nicht aufwächst."
Bevor sie ausgeht, schläft sie kurz, "von zehn bis Mitternacht", dann macht sie sich schön und geht erst mal essen im "Nanoushka", einem angesagten georgischen Restaurant, in dem die Musik so laut ist, dass die Teller auf dem Tisch vibrieren. So gegen drei zieht man dann hinauf zum Nordhafen, wo im "Hangar 11" vielleicht Subliminal auftritt, der Rapper, oder man tanzt nebenan im "TLV" bis zum Morgengrauen. Wenn man Glück hat, kann man dort Galit Gutman, 35, treffen, die Heidi Klum des Landes. Der Model-Star sucht auf Kanal 10 das nächste Supermodel Israels.
Vom Nachtleben erholen sich die Tel Aviver am langen Strand zwischen Jaffa, im Süden, und dem Kraftwerk im Norden. Freitags und samstags ist der Sandstreifen, vor allem im Sommer, proppenvoll. Fast alle Liegestühle sind belegt, baden kann man bis in den Dezember. Oder Matkot spielen, das ist der Strand-Lieblingssport. Er ist die Fortsetzung des Sechstagekrieges mit zwei Schlägern und einem Hartgummiball. Vor allem ältere, stark behaarte Männer knallen sich die kleinen Bälle mit solcher Wucht um die Ohren, dass man auch als Kriegsreporter ängstlich wird.
Verbotsschilder üben eine magische Anziehungskraft aus
Natürlich ist das Matkot-Spielen am Strand verboten, genauso wie das Herumlaufen von Hunden und das Baden an den Stellen, die nicht durch Steinmauern vor der Brandung geschützt sind. Aber Verbotsschilder üben eine magische Anziehungskraft auf die Tel Aviver aus - mehr Hunde habe ich noch an keinem Strand der Welt gesehen, jeder zweite Mann spielt Matkot, und alle, alle baden am liebsten dort, wo es untersagt ist.
Am Meer herrscht Volksfeststimmung, die Familien bringen ihr Essen mit und werfen dann, nach guter alter Sitte, alle Abfälle rund um sich. Am Sonntagmorgen stöhnt man über den Dreck und tröstet sich mit der abenteuerlichen Theorie, all der Müll werde von einem Meereswirbel aus der Türkei an die schönen Strände Israels geschwemmt.
Auch die Orthodoxen haben ihren Strand, er liegt neben dem Yachthafen, aus dem ganzen Land kommen die Busse und karren die Gläubigen heran. Und obwohl sie abgeschirmt sind von den Halbnackten nebenan, gehen sie nur voll bekleidet ins Wasser. Gleich daneben liegt die Segelschule "Sea Center", wo man sich Boote und Nacra-Katamarane leihen kann.
Restaurants haben bewaffnete Sicherheitsleute
Am Abend lohnt es sich, im wunderbaren Fischrestaurant "Manta Ray" über der Brandung zu sitzen. Es liegt am Alma-Strand, gleich neben dem ausgebrannten "Dolphinarium", das 2001 bei einem fürchterlichen Selbstmordattentat (21 Tote, 120 Verletzte) verwüstet wurde. Seither haben die meisten Restaurants einen bewaffneten Sicherheitsmann am Eingang stehen.
Tel Aviv boomt, der Verkehr ist ein Albtraum, die Mieten sind unbezahlbar. Die Stadt, sagt der Fernsehmoderator Nitzan Horovitz, "wirkt so, als würde Almodóvar hier Regie führen: ständig am Rande eines Nervenzusammenbruchs". Wir sitzen im "Messa", einem ganz in Weiß gehaltenen Restaurant mit Kunst an den Wänden, es ist "schon vier Jahre hip, eine lange Zeit für Tel Aviv". Besitzer Isaac Hamel, 53, weiß: "Die Menschen hier lieben das Neue, aber dann haben sie es auch schnell wieder satt." Hier treffen wir Miri Messika, eine der bekanntesten Sängerinnen Israels. "Aus Berlin kommst du?", sagt sie. "Als ich noch in einer Musicaltruppe sang, mussten wir dort mal auftreten. Ich wollte nicht, ich dachte, ich müsse für Hitler singen. So sind wir erzogen worden. Aber dann war es ganz anders, jetzt bin ich verliebt in Berlin." Aber mit Tel Aviv könne es "nicht mithalten". Keine Stadt könne das, sagt Kuratorin Goren, sie kennt New York, Paris und London, ganz nett, aber da sei doch "nachts um drei kein Hund mehr auf der Straße".
Tel Aviv ist - noch - kein Touristenmagnet, bescheidene 2,2 Millionen Besucher kommen pro Jahr, " die meisten", lästert Kneipier Mati Broudo, "ziehen gleich nach Jerusalem weiter, weil die lausigen Hotels am Strand viel zu teuer sind". Broudo ist mit Software in den USA wohlhabend geworden, sein Herz aber schlägt für seine Vaterstadt, die eine "große Zukunft" als Touristenstadt habe: "Sie ist das ideale Ziel für ein langes Wochenende." Seit auch Tui direkt von Deutschland nach Israel fliegt, ist auch für Deutsche der ehemals teure Flug erschwinglich.
Sehen und gesehen werden
Das Wochenende beginnt man am besten auf der Sheinkin Street, wo sich am Freitagmittag alle treffen, die sehen und gesehen werden wollen. Bis zum Sonnenuntergang drängen sich die jungen Israelis auf diesem Jahrmarkt der Eitelkeit. Es gibt viel zu beobachten, auch Bizarres, und es hat, wie so oft in Israel, fast immer mit Religion zu tun: Mitten unter den ständig telefonierenden Halbnackten stehen ein paar Ultra-Orthodoxe mit Hut und Gebetsriemen und versuchen, ihre schamlos hedonistischen Landsleute zu bekehren. Die machen sich einen Spaß draus, sich ebenfalls Tefillin umbinden zu lassen, beten dann kurz und lassen sich dabei von ihren Freunden mit dem Handy fotografieren.
Am Abend geht man in den ältesten Teil von Tel Aviv, nach Neve Tzedek. Die einstöckigen Häuser aus der Gründerzeit waren schon fast verfallen, nun werden sie liebevoll restauriert. Das Viertel, das heute von Hochhäusern umzingelt ist, war ein Slum mit Drogenhändlern und Prostituierten. Heute ist es das In-Viertel mit dem höchsten Quadratmeterpreis in Israel.
Oder man besucht Jaffa, in dem heute noch viele Araber wohnen. Es ist die älteste Stadt am Mittelmeer und grenzt direkt an die jüngste, Tel Aviv. Abends geht man ins Restaurant "Fishermen's", am Ende des Hafens gelegen. Ein Heer von russischen Sängern und Musikanten zieht dort um die Tische, und wenn sie genug getrunken haben, fangen die russischen Gäste auf dem Kai zu tanzen an.
Unbedingt essen gehen muss man in Hani Karawans winzigem, namenlosem Restaurant, wo man das beste Humus an der ganzen Küste bekommt. Humus sei die Religion von Tel Aviv, sagt Mati Broudo, "über nichts wird so leidenschaftlich diskutiert wie darüber, wo es den besten Kichererbsenbrei gibt. Es ist das einzige Thema, das Palästinenser und Israelis eint".