Jahrhundertprojekt Die neue Stadt am Hafen

Die Elbinsel liegt im Herzen von Hamburg. Einst standen hier nur Schuppen und Ladekräne, nun entsteht ein Viertel für etwa 50.000 Menschen, zum Wohnen und Arbeiten am Wasser. Willkommen in der Hafencity, dem größten Städtebauprojekt Europas.

Frank Jacob war der Erste. Im Herbst 2004 zog der Jurist in die Hafencity, da standen die Kräne noch vor der Haustür. Jeden Tag musste er durch Sand und Dreck laufen. Aber er fand's großartig, am Sandtorkai 62 angekommen zu sein, in diesem Haus aus Glas, Stahl und Beton, gebaut vom Hamburger Architekten Peter Schweger. "Das ist mehr als nur eine neue Wohnung. Es ist ein neues Kapitel in meinem Leben - und für Hamburg."

Was derzeit auf einer Elbinsel mitten in der Hansestadt passiert, ist so ungewöhnlich und einzigartig, dass viele Hamburger es noch gar nicht richtig begriffen haben. Hier entsteht ein 155 Hektar großes, von Kanälen und Hafenbecken zerteiltes Wohngebiet, das neun Brücken mit der benachbarten Innenstadt verbinden. 12000 Menschen sollen einmal auf dem Areal des ehemaligen Freihafens wohnen, am Rand der denkmalgeschützten Speicherstadt, mit grandiosem Blick über die Elbe.

Nur die besten Architekten dürfen hier bauen: Hamburgs Stars von Hadi Teherani über Peter Schweger bis zu Jan Störmer. Internationale Berühmtheiten wie der US-Amerikaner Richard Meier und die beiden Schweizer Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Aber auch junge Büros wie SEHW aus Hamburg, die mit dem Designer Philippe Starck ein Apartmenthaus entwickeln. Die Außenanlagen der neuen Hafencity sollen ähnlich exquisit ausfallen: zehn Kilometer Promenaden und Spazierwege am Wasser, entworfen von Enric Miralles und Benedetta Tagliabue aus Barcelona, dazu ein Museumshafen und ein Sportboothafen mit fischförmigen Pontons auf dem Wasser und Backsteinmosaiken an Land.

Frank Jacob genießt die Hafencity jetzt schon, obwohl vieles noch nicht fertig gestellt ist. Der Blick aus seiner 140-Quadratmeter-Wohnung im sechsten Stock ist atemraubend. Eine Glasfassade dient wie ein Wintergarten als Wärmedämmung und schützt ihn vor dem Hamburger Wind. Im Sommer kann er die Glaswand zur Seite schieben. Rund 2000 Euro Miete zahlt Jacob, zum Einzug kam der Bausenator und brachte Brot und Salz, und Silvester feierte er eine Einweihungsparty. Einsam? Keine Spur. "Mein Weinverbrauch ist, seit ich hier wohne, beträchtlich gestiegen, weil ständig Freunde vor der Tür stehen." Der Sandtorkai soll "der Jungfernstieg der Hafencity" werden, sagt Friederike Tiede vom Bau-Verein zu Hamburg. Bei Besichtigungen hat sie manchmal 100 Leute gleichzeitig durch das Schweger-Haus geführt, so groß war das Interesse. Inzwischen sind alle 18 Wohnungen verkauft, zu Preisen zwischen 3000 und 4000 Euro pro Quadratmeter, je nach Lage. Die Büros gehen schwerer weg, weil sie zur anderen Seite, zur Speicherstadt ausgerichtet sind. "Alle wollen Wasserblick", so Tiede. "Dabei sind die alten Backsteinhäuser und die Türme Hamburgs mindestens genauso schön." Jürgen Bruns-Berentelg residiert in einem der Speicherstadt-Häuser. Der Geschäftsführer der Hafencity verteilt die Flächen, entwickelt, verkauft, vermarktet. "Die Hafencity ist eine 100-prozentige Tochter der Stadt Hamburg", sagt er. "Das garantiert, dass der Blick fürs große Ganze bewahrt bleibt." In Hamburgs Hafencity soll das natürliche Wachstum einer Stadt simuliert werden. Dazu gehören nicht nur Wohnungen und Büros, sondern auch eine Schule, ein Supermarkt, ein U-Bahn-Anschluss und eine Menge Kulturstätten. Im Kaispeicher B etwa entsteht ein maritimes Museum mit den Schiffsmodellen und Gemälden aus der Sammlung Peter Tamm. Viele Häuser am Sandtorkai haben Namen wie "Harbour Cube", "Ocean's End" oder "Dock 4". Die Nummer 64 nennt sich "H2O", wurde von den Architekten Spengler und Wiescholek entworfen und schmückt sich im Parterre mit grünem Fischmuster auf meerblauer Wand. 18 von 25 Wohnungen sind schon bezogen, in einer davon wohnt Simone Brauner mit ihrer Familie. Die Grafikerin, 28, ist Mutter der jüngsten Bewohnerin der Hafencity. Leah kam vor sechs Monaten zur Welt. Als die Brauners aus dem lebendigen Hamburger Portugiesenviertel in die Hafencity zogen, hatten viele ihrer Freunde sich gewundert. Ist die Hafencity nicht öde und weit weg von jedem städtischen Leben?, wurden die beiden immer wieder gefragt. "Überhaupt nicht", meint Simone Brauner. "Nur ein paar Schritte entfernt, in der Neustadt, gibt es viele Kinder und Mütter. Jeden Samstag gehen wir einkaufen auf dem Großneumarkt." Und langsam kommen auch die Hamburger hierher. Sie haben entdeckt, dass man hier, auf den noch unbebauten Flächen, wunderbar spazieren gehen, Rad fahren, skaten und joggen kann. "Wir wollen unser Leben lang hier bleiben", sagt Simone Brauner. Nur eines stört sie noch: "Es gibt zu wenige Kinder."

Besucher-Info

Kleine Stadt

In einem historischen Gebäude der Speicherstadt, dem Kesselhaus (am Sandtorkai 30) ist ein acht mal vier Meter großes Modell der Hafencity aufgebaut. Gezeigt wird, wie der neue Stadtteil in 25 Jahren aussehen soll. Von hier starten auch Führungen über die Großbaustelle. Treffpunkt: Kesselhaus, Di.-So. 10-18 Uhr, Tel.: 040/36 90 17 99. Kleine Stadt In einem historischen Gebäude der Speicherstadt, dem Kesselhaus (am Sandtorkai 30) ist ein acht mal vier Meter großes Modell der Hafencity aufgebaut. Gezeigt wird, wie der neue Stadtteil in 25 Jahren aussehen soll. Von hier starten auch Führungen über die Großbaustelle. Treffpunkt: Kesselhaus, Di.-So. 10-18 Uhr, Tel.: 040/36 90 17 99. Allgemeine Infos: Tel.: 040/374 72 60 und www.hafencity.com

Auch Wolfgang Mester, 63, will in der Hafencity noch einmal ganz von vorn anfangen. "Ich habe mich von meiner Frau getrennt und meinen Beruf als Schulleiter aufgegeben, und dann wollte ich auch das Haus nicht mehr." Vier Monate ist es erst her, da spazierte er durch die Hafencity - und war sofort elektrisiert. "Das ist es", dachte er. Und unterschrieb schon kurz darauf seinen Mietvertrag: 102 Quadratmeter für 1700 Euro warm, Eichenparkett, Fußbodenheizung, alles vom Feinsten. Nun ist der gebürtige St. Paulianer an den Hafen zurückgekehrt. Bei sanftem Barjazz genießt er den Blick auf die Elbe, wo gerade ein Riesenschiff der Grimaldi-Lines wendet. "In meiner offenen Küche brutzel ich gern für Freunde", sagt er. Stolz führt er seine raffinierte runde Garderobe vor. Und die Western-Schwingtür zur Küche mit dem Bullaugen-Fenster. "Ich erfülle mir hier im Alter alle meine Kindheitsträume", sagt er und strahlt. "Früher ging kein Hamburger freiwillig hierher in den Freihafen", erinnert sich Michael Krog, Geschäftsführer des Projektentwicklers Drees und Sommer. "Das war wie Zonenrandgebiet." Heute ist Hamburg "rangewachsen an die Speicherstadt". Und: "Die neuen Gebäude passen zueinander und zur Speicherstadt. Keines tanzt aus der Reihe." Sein Büro liegt im Haus der Düsseldorfer Architekten Christoph Ingenhoven und Jürgen Overdiek. Wie fast alle Gebäude am Sandtorkai ragt seine Uferseite bis über das Wasser hinaus. In den nächsten Jahren wird der benachbarte Dalmannkai bebaut werden: 650 Apartments bis 2008, auch ein paar günstige Genossenschaftswohnungen zu zehn Euro pro Quadratmeter sind dabei, damit eine möglichst gemischte Sozialstruktur heranwächst. 200 Vormerkungen gibt es schon; wer hier leben will, muss sich jetzt darum kümmern.

Die bisher edelsten Wohnungen gibt es am Sandtorkai 66. "Ocean's End", gebaut von den Architekten Böge und Lindner, bietet raffiniert ineinander geschachtelte Lofts mit grandiosen Raumhöhen. Familientauglich sind sie nicht, aber äußerst repräsentativ mit hohen Türen, hellem Holz und riesigen Terrassen. Für 17 Euro Miete pro Quadratmeter ist man dabei. Das spektakuläre Haus für China Shipping, den ersten chinesischen Investor in Hamburg, entwarfen die Architekten Bothe, Richter und Teherani: eine Konstruktion aus roten Stahlträgern, markant und elegant zugleich. Inzwischen plant Hadi Teherani schon weiter: Am liebsten würde er eine bewohnbare Riesenbrücke über die Elbe zum Stadtteil Wilhelmsburg schlagen, "eine hanseatische Ponte Vecchio mit Wochenmarkt, Cafés und Sonnenterrasse". Aber das sind vorerst Träume.

Und an der Ecke Sandtorkai und Grasbrook baute Jan Störmer. Hier, so erzählt er, soll der Pirat Klaus Störtebeker enthauptet worden sein. Und hier rettete er, so die Legende, sterbend elf Kumpane, weil es ihm gelang, ohne Kopf noch an ihnen vorbeizurennen. Störmer verbindet eine besondere Liebe mit diesem Ort. Auf einem Stückgutfrachter fuhr er früher zur See. Wo nun die Hafencity entsteht, schleppte er einst Säcke. Heute geht man durch sein Gebäude aus rot gefärbtem Beton in die Hafencity "wie durch ein Torhaus." Demnächst wird dort das Bankhaus Wölbern einziehen. Und im Parterre wird gerade der Chilli Club eingerichtet, das erste Restaurant der Hafencity. Christoph Strenger, erfolgreicher Macher des neuen East Hotels auf St. Pauli, will am 1. Juli eröffnen. Der Mann mit dem George-Clooney-Lächeln und der Muschelkette um den Hals plant "eine asiatische Brasserie, wie es sie in ganz Hamburg nicht gibt". Das Konzept hat er aus Antwerpen. Wenn es gut läuft, soll der Chilli Club der Beginn einer Restaurantkette werden, edel und schick, mit Hirnholz- und Schieferböden und Möbeln in warmen Brauntönen - Sonnenuntergang vor der Terrasse am Sandtorhafen inklusive. Wenn Frank Jacob abends von seinem Stress-Job in einer großen Anwaltskanzlei nach Hause kommt, sitzt er einfach nur auf seinem weißen Ledersofa und guckt, wie die Schaufelbagger, die Lastkähne und die Fährschiffe bei ihm vorbeischippern. Dann trinkt ein Gläschen Wein und freut sich über das wunderbare Abendlicht auf dem Kaispeicher A. Dort soll einmal die extravagante Konzerthalle der Baseler Architekten Herzog und de Meuron glitzern: ein zackiges Konzerthaus auf dem alten Kakaospeicher, leuchtend wie ein Kristall. Sie könnte das Wahrzeichen Hamburgs werden, ähnlich der Oper in Sydney, kühn, elegant und einzigartig. "Schöner geht's nicht", sagt Frank Jacob. "Ich fühle mich schon jetzt wie ein Kind im Bonbonladen."

print
Anja Lösel

PRODUKTE & TIPPS