Das Treffen ist drei Monate her, die Nationalmannschaft steckte noch nicht bis zum Halse in dieser Weltmeisterschaft, da traf man Toni Kroos in einem Hotel in Düsseldorf, um mit einem Mann, der kurz darauf zum dritten Mal die Champions League gewinnen würde, über die Mechanik seines Spiels zu sprechen. Was nur verleiht einem Spieler so eine unverschämte Sicherheit im Passspiel, dass sie selbst im eigenen Trainerstab staunen. "Es gibt keine Spielweise, die ich nicht kenne", erklärte der Spielmacher Kroos, 28, damals, doch er beließ es nicht dabei. "Und ich kenne auch die Gegenmittel. Wenn der Gegner presst, weiß ich, ich habe weniger Zeit. Trotzdem wird es Lösungen geben. Vielleicht wird es dann den einen oder anderen langen Ball geben, aber ich werde mehr Platz bekommen, irgendwann im Laufe des Spiels."
Und was, wenn der Gegner nicht presst?
"Dann wird es vor ihrem Tor schwieriger, weil sie aufs Verteidigen aus sind. Mehr Informationen brauche ich nicht. Meine Lösung kommt instinktiv und situativ das Richtige zu machen, das ist das, was du nicht lernen kannst. Du kannst lernen, es technisch umzusetzen, aber die richtige Entscheidung unter Druck zu treffen, das kann man nicht lernen. Und das ist das A und O meines Spiels."

Unerhörtes passiert: Toni Kroos spielt einen Fehlpass
Drei Monate später ist Düsseldorf weit weg, dafür ist der Praxistest für das Kroos’sche Spiel mal wieder im vollen Gang. WM, Vorrunde. Schweden. Es muss gewonnen werden. Einer blauen Wand aus Leibern sieht sich Kroos gegenüber, es läuft die 32. Minute. Niemand presst. Gleich wird er zum ersten Mal diesem Spiel seinen Stempel aufdrücken und doch so anders, als er dies sonst zu tun pflegt.
Gewohnt souverän will Kroos den Ball durch die erste gegnerische Verteidigungslinie hindurch schieben, wie er das tausendfach in jedem Spiel zu tun scheint. Dann passiert das Unerhörte: Kroos spielt einen Fehlpass, direkt in die Beine von Schwedens Stürmer Markus Berg. Kein Grund zur Panik, noch immer befinden sich zwei Abwehrspieler hinter ihm im Zentrum. Doch Kroos spielt nicht nur diesen einen Fehlpass, er versäumt es auch, danach jenen Mann angemessen eng zu begleiten, der diese Schweden im zweiten Gruppenspiel dieser Weltmeisterschaft gleich mit 1:0 in Führung bringen wird. Sein Name: Ola Toivonen.
Defensivarbeit ist für Kroos eine berufsbegleitende Maßnahme
Er sieht seine Defensivarbeit ja eher als berufsbegleitende Maßnahme. Raum abdecken, ja – Zweikampf eher nicht. Schon im ersten Spiel war er bei Mexikos Siegtreffer von Hirving Lozano nur halbherzig hinterher gelaufen. Ausgerechnet dieser Kroos drohte somit zum Gesicht der Niederlage einer großen Elf bei diesem Turnier zu werden.

Es ist ein bemerkenswerter Moment, den Kroos danach dem deutschen Fußball schenkt, nicht nur, weil er in der fünften Minute der Nachspielzeit noch das Siegtor schießt. Selten offenbart sich so deutlich, wie weit er in seiner Entwicklung gekommen ist, wie in jener zweiten Halbzeit. Er zieht sich nach seinem Bock nicht zurück in sich selbst, wie er dies früher schon einmal getan hat. Er strafft sich und fädelt unermüdlich Angriff um Angriff ein. Größer scheint er von Minute zu Minute zu werden. Aufforderung ist ihm sein Fehler, dem eigenen Anspruch Folge zu leisten, nicht Fanal zum Rückzug. Man sieht, wie er kämpft, auch deshalb vermögen sich die anderen an ihm aufzurichten in einer Elf, die gewillt ist, aber auch immer wieder ins Stolpern gerät. Es ist dieses Spiel, in dem Kroos zu einer prägenden Figur wird, über den eigenen Aktionsradius hinaus, in einer Mannschaft, die nach Erfahrung und Stabilität lechzt.
Misstrauen gegen Kritiker
"Natürlich, brauchen wir nicht darüber reden, dass das 1:0 auf meine Kappe geht“, erklärt er nach dem Spiel. Er steht in der Mixed Zone, er ist noch nicht fertig. Er hat ja seit Tagen das Gefühl, dass jene, die ihm mit Stiften gegenüber stehen, seinem Team nicht wohl gesonnen sind. Also liefert er ihnen den Subtext seiner Antwort gleich mit: "Es kann nach so einem Fehler dann in zwei Richtungen gehen. So ein Fehler macht dein Spiel kaputt oder du versuchst alles reinzuhauen und anzutreiben. Das habe ich versucht."
Heraus kam kein perfektes. Spiel. Ein großes Spiel schon.
