Interview Bode Miller Sieg oder Sarg

Sein Stil scheint selbstmörderisch, sein Mundwerk ist frech: Der US-Amerikaner Bode Miller, derzeit bester Skifahrer der Welt, spricht im stern-Interview über die Kunst, sich selbst zu überwinden, den Starrsinn der Rennveranstalter und seine Liebe zu schlabberigem Toast.

Mr Miller, wir sitzen hier in Ihrem Wohnmobil, mit dem Sie im Winter seit Jahren kreuz und quer durch die Berge fahren, von einem Skirennen zum nächsten. Sie sind jetzt 30 – macht es immer noch Spaß, morgens die Scheiben freizukratzen?

Das ist der perfekte Start in den Tag. Wenn Sie morgens aus dem Fenster gucken, sehen Sie wahrscheinlich immer dieselbe Straße, denselben Vorgarten und, wenn Sie Pech haben, denselben Nachbarn. Ich habe jeden Tag eine andere gigantische Kulisse, mit verschneiten Gipfeln, Wäldern und Seen. Neuer Parkplatz, neue Perspektiven.

Könnten Sie es sich überhaupt leisten, im Hotel zu übernachten? Sie haben schließlich einen Ruf zu verlieren als Rebell des Skisports.

Es interessiert mich nicht, welchen Ruf ich habe. Auch nicht, welche Sauf- und Kiffgeschichten mir nachgesagt werden. Mein Image hat sich in den letzten Jahren verselbstständigt, da kann ich wohl nichts mehr dran ändern, und deshalb versuche ich auch gar nicht, etwas richtigzustellen. Ich sehe mich nicht als Rebellen, sondern als Athleten. Und zwar als einen der besten in der Geschichte des Skisports.

Sie haben in dieser Saison schon den Weltcup in der Kombination gewonnen und führen auch die Gesamtwertung an. Fühlen Sie sich auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere?

Ich fühle mich auf jeden Fall so gut wie nie. Natürlich war ich mit Anfang 20 giftiger und explosiver. Jetzt bin ich erfahrener, habe ein besseres Gespür für mich und meine Ski. Ich kann meine Rennen kontrollieren.

Tatsächlich? Wenn man Sie auf der Piste sieht, kann man Angst um Sie bekommen: Wie ein nasser Sack hängen Sie auf den Skiern, Gesäß weit hinten, es sieht immer so aus, als würden Sie aus der nächsten Kurve fliegen. Nach dem Motto: Sieg oder Sarg.

Wer gewinnen will, darf nicht wie ein Skilehrer den Hang runterfiedeln. Ich fahre am Limit, weil alle anderen im Weltcup auch am Limit fahren – bei denen sieht das bloß eleganter aus. Ein Ästhet bin ich sicherlich nicht, aber niemand muss sich Sorgen machen um meine Gesundheit. Ich kenne meine Grenzen, weil ich sie seit meiner Kindheit jeden Tag im Training teste.

Grenzen zu testen bedeutet auch, sie manchmal zu überschreiten. Haben Sie keine Angst vor Stürzen?

Ich mag das Wort Angst nicht. Die wäre ein schlechter Ratgeber für einen Profi. Nicht die Piste ist gefährlich, sondern der Selbstzweifel. Wenn ich oben im Starthaus stehe und nur eine halbe Sekunde ins Grübeln komme, verliere ich das Rennen. Und wenn ich richtig Angst hätte, würde ich wahrscheinlich schrecklich stürzen.

Beim Hahnenkamm-Rennen in Kitzbühel, der schwierigsten Abfahrt der Welt, gab es in diesem Jahr einen dramatischen Unfall. Ihr Landsmann Scott Macartney stürzte bei Tempo 140 und musste mit dem Hubschrauber in die Klinik geflogen werden. Sie starteten wenig später, streiften einen Fangzaun und wurden doch Zweiter. Wie haben Sie es geschafft, Macartneys Crash zu verkraften?

Ich war traurig, ich hatte großes Mitleid mit Scott. Da kriecht ein mulmiges Gefühl in einem hoch. Aber ich habe mir immer wieder gesagt: Scott hat einen Fehler gemacht, und du machst keinen. Zeig, was du kannst, dann gewinnst du das Ding!

So einfach ist das?

Es klingt vielleicht einfach, ist es aber nicht. Je mehr Fahrer stürzen und je länger man warten muss, bis die Piste wieder hergerichtet ist, desto strengere Gespräche muss man mit sich führen. Man muss sich selbst schon sehr gut bequatschen können.

Wer sich selbst der beste Psychologe ist, ist also auch der beste Abfahrer?

Es nützt nichts, die dicksten Waden zu haben, wenn der Kopf voller Sorgen ist. Es ist die Mischung, die den Champion macht. Physis, Selbstvertrauen und nicht zu vergessen: Fleiß. Bei mir denken viele Leute ja, dass mir alles so zufällt. Der Miller fährt wie eine Pottsau und gewinnt auch noch, das muss ein Genie sein.

In Wahrheit sind Sie natürlich ein Malocher . . .

. . . auch wenn Sie vielleicht lachen: Ja, ich bin ein Trainingstier, ich habe verdammt viel dafür getan, um in der Weltelite mitzumischen. Und das heißt nicht nur, dass ich auf der Hantelbank liege und Gewichte stemme. Ich stelle alles dauernd auf den Prüfstand. Training, Ernährung, medizinische Versorgung, ich will alles verbessern, Tag für Tag. Ich beschäftige mich mit jedem Krümel in diesem Geschäft.

Sie sind aus der US-Nationalmannschaft ausgetreten und seit dieser Saison mit einem Privatteam unterwegs. Eigener Trainerstab, eigener Koch, eigener Physiotherapeut – ist das das Geheimnis Ihrer Dominanz?

Alle im Team sind darauf fokussiert, dass es mir gut geht und dass ich gewinne. Das gefällt mir. In einer großen Mannschaft wie dem US-Team dauert alles länger, alles muss mit jedem abgestimmt werden, das ist nicht meine Welt. Bei mir muss es schnell gehen. Ich kenne die Jungs aus meinem Team schon ewig, mit Jake Serono zum Beispiel, meinem Koch und Fahrer, bin ich schon seit dem fünften Lebensjahr befreundet. Wir alle vertrauen uns sehr.

Aber Sie sind der Chef und bezahlen das Team. Ist es nicht schwierig, miteinander befreundet zu sein und gleichzeitig in einem Geschäftsverhältnis zu stehen? Können Sie überhaupt richtig auf den Tisch hauen?

Musste ich bislang noch nicht. Jeder im Team weiß, worauf er sich mit mir einlässt, welche Philosophie ich habe und welche Macken. Es ist jedenfalls ein gutes Gefühl, etwas gestalten zu können. Im Skisport tut sich ja sonst erschreckend wenig. Viele Weltcuprennen werden so gemanagt wie vor 20 oder 30 Jahren. Kein Wunder, dass unser Sport wirtschaftlich und technologisch stagniert.

Was würden Sie denn anders machen?

Fragen Sie die Herren von der FIS, vom Weltverband, denen habe ich das jahrelang erzählt. Aber die bewegen sich keinen Millimeter. Die kriegen ihr Geld auch fürs Nichtstun. Wir brauchen eine zeitgemäße Vermarktung. Wir müssen die Weltcups zu Events machen, mit Bands, Shows, DJs, wir müssen das Rahmenprogramm entstauben. Denn wir sollten nicht darauf vertrauen, dass die Leute auch in den nächsten Jahren nur kommen, um uns die Piste runterjagen zu sehen. Das zieht außerdem keine neuen Sponsoren an.

Man kann das ja auch sympathisch finden, dass etwas bewahrt und nicht kommerziell völlig ausgepresst wird.

Das ist Romantik. Wir müssen andere Signale senden und Skifahren wieder zu einer topmodernen Geschichte machen. Schauen Sie auf die Skiindustrie: Kaum jemand steckt mehr Geld in die Entwicklung neuer Technologien, jeder wartet, dass der andere was erfindet, um es zu kopieren. Ich bin mit meinem Material sehr zufrieden – aber die Branche hat schon ein Problem.

Haben Sie überhaupt noch Hoffnung, dass sich etwas ändert?

Ich höre nicht auf, Werbung für meine Ideen zu machen. Ich rede mit den Verantwortlichen, aber ich bin nicht mehr so missionarisch, da fließt kein Herzblut mehr.

Ist der Stillstand im Skisport ein europäisches Problem? Snowboarding, das aus Amerika kommt, hat ein viel jüngeres Publikum und wird sehr offensiv vermarktet.

Von dieser Lust am Experiment sollten wir uns anstecken lassen. Aber das hat nichts mit Europa zu tun – obwohl ihr schon sehr stolz seid auf eure alten Sachen.

Zum Beispiel?

Euer braunes Brot gibt es doch bestimmt schon ein paar Hundert Jahre. Ich mag es ja auch irgendwie. Aber gegen ein ordentliches Sandwich ist es Schrott. Dafür braucht man Weißbrot, schön schlabberig und so dick geschnitten, dass es noch gerade den Belag hält, auf zwei oder drei Stockwerken. Wo gibt’s das hier? Ich bin schon in 1000 Bäckereien gewesen – Fehlanzeige. Ihr habt tolle Berge hier in Europa, und Skifahren könnt ihr auch, aber von Sandwiches versteht ihr leider gar nichts.

Interview: Christian Ewers

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