Was macht ein großes Kunstwerk aus? Es ist handwerklich stark gemacht, es fängt die Emotionen einer einzelnen Situation oder auch eines ganzen Lebensgefühls ein, es zieht den Betrachter in dieses Gefühl hinein und lässt ihn immer wieder neue, erstaunliche Details entdecken. Das gilt für die berühmten Gemälde der Kunstgeschichte ebenso wie für die ikonischen Fotografien der letzten 100 Jahre – und es gilt für das Foto aus der Scotiabank Arena in Toronto, das gerade um die Welt geht.
Geschossen hat es der kanadische Sportfotograf Mark Blinch beim Spiel zwischen den Toronto Raptors und den Philadelphia 76ers in der nordamerikanischen Basketball-Profiliga NBA. Blinch drückte, wie man so sagt, im genau richtigen Moment auf den Auslöser und hat damit einen Augenblick festgehalten, der irgendwo zwischen Kunst und Realität liegt: Entsetzen, Anspannung, Staunen und Freude spiegeln sich auf dem bis ins letzte Pixel gestochen scharfen Foto, das gerade so viele Menschen begeistert.
NBA: Fotograf Mark Blinch gelingt das Sportfoto des Jahres
Man muss die Geschichte hinter diesem Bild nicht kennen, aber es hilft. Auch das hat das Foto von Blinch mit den großen Kunstwerken gemeinsam: Man kann sich als unbedarfter Betrachter dafür begeistern. Aber es hat gewissermaßen auch eine Rahmenhandlung, und wer diese kennt, kann es noch besser ergründen.
Es ist das entscheidende siebte Spiel um den Einzug ins NBA-Halbfinale zwischen den Raptors und den 76ers, Sekunden vor dem Ende steht es 90:90 – auch weil Kawhi Leonard kurz zuvor einen wichtigen Freiwurf für das Team aus Toronto vergeben hat. Dann, in der letzten Sekunde vor Ablauf der Spielzeit, wirft Leonard noch einmal von rechtsaußen. Der Ball springt viermal an den Ring, aus Sekundenbruchteilen werden Ewigkeiten, dann fällt er in den Korb. Einen "Buzzerbeater" nennt man das im Basketball – entscheidende Punkte in der letzten Spielsekunde. Die Raptors ziehen ins Halbfinale ein, Leonard wird zum Helden.
Eine ganze Geschichte in einem Sekundenbruchteil erzählt
All das wäre schon Stoff genug für eine Legende in der an legendären Geschichten wahrlich nicht armen NBA-Historie. Doch dann war da noch dieses Foto. Von der ganzen Ausgangslage drumherum sehen wir nichts auf dem Bild, doch an den Gesichtern lässt sich die Dramatik ablesen. In kleinen Details erzählt ein Sekundenbruchteil, festgehalten für die Titelseiten der Zeitungen am Tag danach, die ganze Geschichte.

Der Held des Abends verschwindet fast auf dem Bild: Leonard ist der hockende Spieler im weißen Trikot, der mit offenem Mund seinem Wurf hinterherschaut, mit einem Blick zwischen Hoffen und Bangen. Das Gleiche gilt für die 76ers-Spieler in den roten Trikots, die ebenfalls zum Zuschauen verdammt sind und mit ihren Augen den Ball aus dem Korb hinaushypnotisieren zu wollen scheinen. Des einen Freud, des anderen Leid.
Raptors-Ersatzmann Jordan Loyd (im dunklen Anzug hinter Leonard) breitet die Arme aus, als wolle er gleich abheben, manche nennen ihn den "typischen auf einer Bank hockenden Typen". Seine Teamkollegen wissen noch nicht, ob sie feiern oder leiden sollen. Und auch die Fans, ganz nah am Court, verfolgen mit weit aufgerissenen Augen das Geschehen – oder schauen nach oben auf den Videowürfel, weil ihnen hinter dem Korb die Sicht verdeckt ist. Auf der Anzeigetafel leuchtet längst die 0.0, die rote Umrandung zeigt an, dass die Spielzeit abgelaufen ist. Mehr Drama geht nicht.
Sogar Rapper Drake ist begeistert
Für die Toronto Raptors geht es im Halbfinale gegen die Milwaukee Bucks wieder bei Null los, Basketball ist ein schnelllebiges Geschäft. Das Foto von Mark Blinch hingegen ist etwas, das bleibt. "Das ist das Bild des Jahres", schreiben viele begeisterte Fans und Kollegen auf Twitter. Rap-Superstar Drake schrieb auf Instagram, er würde am liebsten einen spontanen Freestyle-Song aufnehmen, nur um das Bild als Artwork dafür benutzen zu können. Das würde diesem Kunstwerk tatsächlich noch einmal eine weitere, ganz neue Facette hinzufügen.
