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Partner der Stiftung stern Helfer in der Ukraine: "Wenn wir bei jedem Luftalarm Schutz suchen würden, könnten wir gar nicht arbeiten"

Mike Seawright
Mike Seawright, 49, hier im zerstörten Markt von Charkiv in der Ostukraine, leitet seit 2014 die Hilfsorganisation ReliefAid. Der Neuseeländer arbeitete zuvor als Investmentbanker
© Anne Bulley
Ob Syrien oder Afghanistan – Mike Seawright kennt sich aus in Kriegsgebieten. Jetzt arbeitet er mit seiner Organisation ReliefAid, unterstützt von der Stiftung stern, in der Ukraine. Wir fragten nach: Was tut ReliefAid konkret – und wie kommt es, dass ein Neuseeländer um den halben Globus fährt, um zu helfen?

Sie kennen sich aus mit dem Krieg. Ihr Organisation ReliefAid ist spezialisiert auf Konfliktgebiete. Zurzeit sind Sie in der Ukraine. Aber Sie helfen zum Beispiel auch in Syrien. Ist die Lage vergleichbar?

Es gibt ähnliche Muster. Etwa die willkürliche Zerstörung von zivilen Einrichtungen. Oder noch schlimmer: der willkürliche Beschuss von Zivilisten. Das heutige Mariupol ähnelt in einer gewissen Weise dem Aleppo des Jahres 2016.

Zivilisten sollten durch das Kriegsrecht geschützt sein.

In der Theorie. Die Praxis ist meist etwas anderes, egal wo. Was die Ukraine aber von Syrien unterscheidet, sind die Dimensionen: Ich habe noch nie gesehen, dass so viele Menschen in so kurzer Zeit ihre Heimat verlassen mussten wie jetzt in der Ukraine.

Was tun Sie gerade im Land?

Wir helfen den Menschen, ihre zerstörten Häuser zu reparieren, so dass sie wieder, wortwörtlich, ein Dach über dem Kopf haben, zum Beispiel in Butscha oder Irpin, den vom Krieg vollkommen verwüsteten Orten bei Kiew. Außerdem verteilen wir Lebensmittel. Und wir besorgen Medikamente für Krankenhäuser.

Wie ist die humanitäre Lage derzeit?

Man muss differenzieren. In Orten, die am Anfang des Krieges von der russischen Armee besetzt waren, kämpfen die Menschen jetzt vor allem mit der Zerstörung. Also mit bombardierten oder zerschossenen Häusern. In anderen Städten, wie Charkiv im Osten, ist der Krieg sehr präsent. Die Front ist nur zehn Kilometer entfernt, immer wieder wird die Stadt auch mit Artillerie beschossen. Noch schlimmer sieht es in den Orten aus, die sehr nah an der Front liegen. Immer wieder Granaten. Luftangriffe. All das mehrmals am Tag, ja fast ständig.

Wie arbeiten Sie vor Ort?

Neben unseren eigenen Leuten, das sind sowohl Ausländer wie auch Ukrainer, arbeiten wir mit lokalen Organisationen zusammen, und, was am wichtigsten ist, mit Freiwilligen aus den Dörfern und Städten selbst. Das sind die Menschen, die dann zum Beispiel die Lebensmittel verteilen. Die machen eine unglaubliche Arbeit. Diese Männer und Frauen geben einfach alles, um anderen Menschen zu helfen. Ich arbeite jetzt seit 18 Jahren in der humanitären Hilfe, aber so einen Einsatz, das habe ich noch nirgendwo gesehen.

Helfer von ReliefAid verteilen Lebensmittel und Haushaltswaren in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew
Helfer von ReliefAid verteilen Lebensmittel und Haushaltswaren in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew
© Anne Bulley

Trotz des unaufhörlichen russischen Vormarschs? Man könnte ja annehmen, dass Kraft und Motivation endlich sind.

Es ist eine sehr bittere Pille, die die Menschen hier schlucken müssen, dass der Krieg noch immer andauert. Und wohl noch lange andauern wird. Aber wirkt sich das auf ihre Motivation aus? Absolut nicht.

Was fehlt den Menschen im Moment besonders?

Natürlich brauchen sie Essen, brauchen die Krankenhäuser Medikamente, aber wir merken vor allem, dass ihnen die Mittel fehlen, ihre zerstörten Häuser zu reparieren, und sei es nur notdürftig.

In welchem Umfang sind denn die Dörfer oder Städte zerstört?

Das kann man sich nur schwer vorstellen. Ich habe noch nie so ein Ausmaß an Verwüstung gesehen.

Was heißt das konkret?

In Orten wie Irpin oder Butscha gibt es ganze Viertel, die einfach komplett zerstört sind. Wenn man auf der Hauptstraße durch Butscha fährt, dann sieht man links und rechts fast die ganze Zeit nur zerbombte Häusergerippe. Manchmal ist da ein Haus dazwischen, das, warum auch immer, heil geblieben ist, es wirkt fast surreal. Das lässt aber die Zerstörung rundherum nur noch grotesker wirken.

Zwei Helfer von ReliefAid (links und Mitte) besprechen mit einem Opfer eines Granatenangriffs die Reparatur ihres Hauses
Zwei Helfer von ReliefAid (links und Mitte) besprechen mit einem Opfer eines Granatenangriffs die Reparatur ihres Hauses
© ReliefAid

Sind diese Orte menschenleer?

Die Bewohner kommen langsam zurück und leben dann in dem Teil des Hauses, der nicht zerstört ist. Manche Leute haben auch noch Geld, um zum Bespiel neue Fenster einsetzen zu können, aber das sind die wenigsten. Denn die wirtschaftliche Lage ist ja dramatisch. Selbst für die humanitäre Hilfe ist es zum Beispiel schwer, an Benzin oder Diesel zu kommen – für Menschen, die einfach ein Geschäft weiter betreiben wollen, kaum mehr möglich.

Wie sehr sind die Freiwilligen, mit denen Sie arbeiten, selbst vom Krieg betroffen?

Jeder von ihnen, wirklich jeder, hat seine Heimat, sein Haus, sein Dorf, seine Stadt, verlassen müssen. Einer hat zum Beispiel vor ein paar Wochen seine 75-jährige Großmutter aus Sjewrenodonezk evakuiert. Das war damals schon dramatisch, gefährliche Auto- und Busfahrten, stundenlanges Stehen im Zug – heute, da die Stadt von russischen Truppen belagert wird und alle Brücken zerstört sind, wäre es unmöglich.

Wenn Sie Lebensmittel verteilen, müssen Sie sich dann immer wieder in Keller oder Bunker flüchten, wenn Luftalarm gegeben wird?

Die Sirenen sind Alltag hier. Wenn wir, immer wenn Luftalarm ist, Schutz suchen würden, dann könnten wir gar nichts tun. Wir machen also einfach weiter. Anders ist das bei Artillerie, wenn die Einschläge näher kommen. Aber auch dann wägen wir ab. Denn allein, dass Geschützdonner zu hören ist – dass kann einen nicht von der Arbeit abhalten. Es gibt also immer ein Restrisiko. Übrigens auch, weil die russische Armee ziemlich wahllos die Städte beschießt. Das folgt keiner militärischen Taktik. Der Sinn ist offenbar vor allem, Angst und Terror zu verbreiten.

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Wurde schon jemand aus Ihrem Team verletzt?

Nein, zum Glück nicht. Aber ich weiß, dass zwei Männer von einer Freiwilligen-Organisation, die nicht für uns arbeitet, vor kurzem im Süden des Landes ums Leben gekommen sind.

Sie selbst stammen aus Neuseeland, vom anderen Ende der Welt – wie kam es, dass Sie in den Kriegsgebieten des Nahen Ostens oder jetzt in Europa helfen?

Ein guter Freund von mir, auch ein Neuseeländer, arbeitet seit Jahrzehnten im humanitären Bereich. Er kam damals, es ist inzwischen 18 Jahre her, gerade aus dem Sudan zurück und wohnte ein paar Wochen bei mir in Auckland. Ich war damals Investmentbanker, ich verdiente gutes Geld, hatte eine Yacht, das war eine ganz andere Welt. Aber alles, was er erzählte, faszinierte mich, das Helfen, das Etwas-verändern-können. Er verschaffte mir ein Bewerbungsgespräch und kurze Zeit später hatte ich meinen Job hingeworfen und war im Süden des Sudan. Ich wollte einfach nicht irgendwann auf mein Leben zurückblicken und mir sagen müssen: Zwar viel Geld verdient, aber sonst nichts erreicht. 2014 habe ich dann meine eigene Organisation gegründet, ReliefAid.

Interessieren sich Ihre Landsleute in Neuseeland dafür, was im fernen Europa geschieht?

Ja, tatsächlich, der Krieg ist bei uns auch täglich in den Nachrichten und die Leute wollen helfen – weil sie merken: Die Menschen in der Ukraine brauchen Hilfe. Was ich aber auch immer wieder versuche zu erklären, und das ist ein schwieriger Belance-Akt. Ja, helfen wir der Ukraine, denn was dort geschieht, ist unmenschlich und brutal. Aber vergessen wir nicht die anderen Krisen der Welt die Kriegsgebiete von Syrien, die Dürreregionen Ost-Afrikas, wo Menschen gerade in diesen Tagen auch auf Hilfe angewiesen sind.

Die Stiftung stern finanziert die Arbeit von ReliefAid mit zurzeit 50.000 Euro. Wenn Sie uns dabei unterstützen wollen: Hier gelangen Sie direkt zum Ukraine-Spendenkonto der Stiftung stern.

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