Hodon Bile sitzt schunkelnd auf dem weißen Plastikstuhl in einem Behandlungszimmer des Gesundheitszentrums im Dorf Ainabo in der autonomen Region Somaliland im Norden Somalias. Ihr gegenüber schreibt eine Krankenschwester Zahlen in ein großes Buch. Hodon Biles heller Hijab ist streng um ihr schmales Gesicht geschlungen und fällt von dort weit und locker über ihren Körper. Es lässt sich nur erahnen, wie groß das Kind ist, das sich unter dem Schleier an dem verborgenen Körper der 30-jährigen Mutter festhält.
Wenn Hodon Bile auch nur eine Sekunde mit dem Schunkeln aussetzt, erklingt ein verzweifeltes Weinen unter dem Hijab. Schmerz und Verzweiflung eines unsichtbaren Kindes. "Kalif war sehr krank, aber langsam geht es besser", sagt die Mutter. Sie pustet die Worte aus sich heraus. Schnell, faktisch, scheinbar ohne Gefühl. Nur nicht aufhören, das Kind zu wiegen.
Hodon Bile ist erschöpft. Um fünf Uhr ist sie heute aufgestanden, um den langen Fußmarsch zu dem kleinen Gesundheitszentrum von Ainabo hinter sich zu bringen, bevor die glühende Sonne die Temperatur auf über 40 Grad jagt, gegessen hat bis jetzt noch nichts. Heute soll Kalifs Nachuntersuchung stattfinden. Der Dreijährige wurde vor wenigen Tagen von der Stabilisierungsstation des Gesundheitszentrums entlassen – dort, wo schwer unterernährte Kinder in letzter Minute vor dem Hungertod gerettet werden.
Denn der Tod durch Hunger – das ist hier am Horn von Afrika wieder zu einer grausamen Realität geworden. Es ist Folge dessen, was Experten einen "perfekten Sturm" nennen: Viele Familien, gerade die ärmsten, leiden noch unter den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie. Dazu kommt: Vier Regenzeiten in Folge sind ausgefallen oder weit unter Durchschnitt geblieben. Und dann explodierten auch noch in Folge des Kriegs in der Ukraine die Lebensmittelpreise.
Die UN haben nun vor einer unmittelbar bevorstehenden humanitären Notlage in Somalia gewarnt. Das Land am Horn von Afrika stehe am Rand einer Hungersnot, sagte UN-Koordinator Martin Griffiths in der somalischen Hauptstadt Mogadischu.
Der UN-Koordinator zeigte sich "zutiefst schockiert über das Ausmaß an Schmerz und Leid, das so viele Somalier erdulden müssen". Bei seinem Besuch in Baidoa, dem "Epizentrum" der bevorstehenden Katastrophe, habe er "Kinder gesehen, die so unterernährt waren, dass sie kaum sprechen konnten". Landesweit sind nach UN-Angaben 213.000 Menschen akut vom Hungertod bedroht. Eine formale Ausrufung einer Hungersnot durch die UN ist selten. Ein solcher Schritt setzt voraus, dass mehr als ein Fünftel der Haushalte extreme Lücken bei der Nahrungsmittelversorgung haben, mehr als 30 Prozent der Kinder akut unterernährt sind und mehr als zwei von 10.000 Menschen täglich daran sterben.
Erst trifft es die Tiere, dann die Menschen
Auch in Ainabo ist die Lage dramatisch. Knapp 6000 Menschen leben hier. Der Boden ist staubtrocken, doch Dürre ist mehr als Trockenheit. Dürre erstickt; sie tötet – schmerzhaft, langsam und dennoch gierig. Die Dürre hat Hodon Bile viel genommen und sie ist nicht fertig mit ihr.
"Wir haben unser gesamtes Vieh verloren. Und wir hatten viele Ziegen!" Ungefähr vier Stunden Fußmarsch von Ainabo entfernt hat Hodon Bile mit ihrem Mann und ihren sieben Kindern gelebt. Viehzüchter traditioneller somalischer Art waren sie. "Unsere Tiere sind alle verhungert. Als das letzte starb, sagte mein Mann: 'Was soll ich noch hier? Es gibt nichts mehr für mich zu tun.'" Er ist weggegangen und überließ Frau und Kinder ihrem Schicksal und der Dürre.
Mehrere Tage lang ist Hodon Bille mit ihren sieben Kindern nach Ainabo gelaufen. Zu essen hatten sie nur, was ihnen mitfühlende Menschen auf dem Weg gaben. Wie die meisten Binnenflüchtlinge landete die Familie zuerst in einem der beiden Flüchtlingslager am Rand des Ortes. Mehr als 10.000 Menschen leben dort in einfachen Hütten, ein paar Äste als Gerüst, darüber Tücher oder Plastikfolien
"Meinem jüngsten Sohn ging es sehr schlecht. Ich habe ihn ins Gesundheitszentrum gebracht", erzählt Hodon Bille. "Aber es war zu spät. Er starb noch am selben Tag." Zwei weitere ihrer Söhne starben kurz darauf. "Sie waren alle schwer unterernährt. Im Krankenhaus habe ich Angst bekommen und dachte, jetzt stirbt Kalif auch."
Es geht um Menschenleben
Das Gesundheitszentrum von Ainabo wird von der Hilfsorganisation Care finanziert. Die Lage am Horn von Afrika ist seit Jahren schwierig, aber jetzt ist es kritisch, existentiell. "Momentan geht es darum, Menschenleben zu retten", sagt Amrab Shire, eine somalische Mitarbeiterin von Care. Shire und ihre Kolleginnen und Kollegen bekommen mit, wie sich immer mehr Menschen das Essen nicht mehr leisten können. Selbst der Preis für Trinkwasser sei wegen steigender Transportkosten fast doppelt so hoch.
Über 4000 Kilometer liegen zwischen Kiew und Somalilands Hauptstadt Hargeisa – doch was dort im fernen Osteuropa passiert, schlägt Wellen bis ans Horn von Afrika. Somaliland importiert einen Großteil seines Weizens aus Indien und vor allem aus Ägypten, welches wiederum von der Ukraine und Russland beliefert wird. Es sind Verästelungen eines weltweiten Netzes, kaum ein Markt ist so globalisiert wie der von Getreide und anderen Grundnahrungsmitteln. Sojabohnen aus Brasilien nach China, Mais aus den USA nach Mexiko, Hafer aus der EU nach Saudi-Arabien. Und eben, in normalen Zeiten, Getreide, vor allem Weizen, aus der Ukraine nach Nordafrika und Ostafrika. Missernten in einer Region können normalerweise durch andere Anbauregionen ausgeglichen werden.
Fällt aber ein sehr wichtiger Player aus, wie eben die Ukraine, die gemeinsam mit Russland fast ein Drittel des weltweit gehandelten Weizens stellt, dann gerät das System ins Wanken – und die Händler und Käufer am Ende der Kette spüren die Folgen, auch in einer Kleinstadt am Horn von Afrika.
"Ich verfolge die Nachrichten über die Lage in der Ukraine genau", sagt Abdilahi Farax. Der 54-Jährige besitzt einen Lebensmittelladen in Burao, gut 120 Kilometer nordöstlich von Ainabo. Burao liegt an der Route zur Hafenstadt Berbera, von hier bekommt Farax die meisten seiner Waren. Von Spaghetti bis Klopapier, von Seife bis Babynahrung. Und eben auch Weizen, in großen Säcken.
Wer über die Lage in Sewerodonezk oder die Zukunft des Donbas reden möchte, findet in der somalischen Kleinstadt gut informierte Gesprächspartner. "Frankreich hat recht", sagt Abdilahi Farax an diesem Tag, da Präsident Macron gerade wieder rhetorisch in die Offensive gegangen ist. "Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen." Aber bitte bald, fügt er hinzu und hebt beide Arme gen Himmel.
Alle drei Monate kommt ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation Care in Abdilahi Farax‘ Laden und fragt die aktuellen Lebensmittelpreise ab. "Im März kosteten zwei Liter Sonnenblumenöl drei US-Dollar. Heute sind es acht Dollar", sagt der Ladenbesitzer und schüttelt mit dem Kopf. Er hat die alten und neuen Preise auf einen Ringblock geschrieben. Der Care-Mitarbeiter gibt die Daten in eine App auf seinem Handy ein. 25 Kilogramm Weizenmehl: von 24 auf 33 Dollar. Reis: von 25 auf 30 Dollar. Der Preis von Milchpulver hat sich fast verdreifacht von 8 auf 21 Dollar.
"Ich habe zwei Drittel meiner Kunden verloren", sagt Abdilahi Farax. Er könne es sich einfach nicht mehr leisten, jemanden anschreiben zu lassen. Um seine Existenz zu sichern, versucht er sich auf die neue Lage einzustellen. Normalerweise verkauft Farax den Weizen im Sack zu 25 Kilo. "Heute biete ich auch halbe Säcke an manchmal sogar einen viertel Sack." Sonst könne er sie nicht mehr verkaufen.
Auch den Hilfsorganisationen fehlt das Geld. Noch nie gab es so wenig Unterstützung aus den Geberländern in einer Krise dieses Ausmaßes. Mehr drei Millionen verendete Tiere seit Mitte vergangenen Jahres allein in Somalia, 560.000 Binnenflüchtlinge. Wenn im September wieder der Regen ausbleibt, wird laut den Vereinten Nationen die Zahl der von Hunger bedrohten Somalis auf über sieben Millionen steigen.
Für die gesamte Region Ostafrika klaffen riesige Finanzierungslücken. Noch nicht einmal ein Drittel der benötigten Mittel wurden bislang zur Verfügung gestellt. Das Welternährungsprogramm musste schon vor Wochen für 1,7 Millionen Menschen im kriegsgebeutelten Südsudan die Rationen streichen. Und auch die von den G7-Staaten im Juni zugesagten 4,3 Milliarden Euro werden bei weitem nicht ausreichen, um die Not zu bekämpfen.
Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein, und das ist hier am dürregeplagten Horn von Afrika wortwörtlich zu verstehen.