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Nördliche Breitmaulnashörner Sie heißen Najin und Fatu. Sie sind Mutter und Tochter. Sie sind die letzten ihrer Art

Zwei Nashörner
Mutter und Tochter
Najin (l.) und die jüngere Fatu werden von ihren Pflegern liebevoll „Mädchen“ genannt. Sie können beide keine Kälber mehr bekommen
© Jack Davison/The New York Times
Die letzten beiden nördlichen Breitmaulnashörner Najin und Fatu leben in einem Reservat in Kenia. Autor Sam Anderson und Fotograf Jack Davison hatten das Glück, sie treffen zu dürfen.
Von Sam Anderson

An dem Tag, an dem Sudan starb, erschien alles zugleich gewaltig und gewöhnlich. Es war ein Montag. Grauer Himmel, leichter Regen. Am Horizont stand die Sonne über dem zackigen Doppelgipfel des Mount Kenia und hatte Mühe, durchzubrechen. Kleine, schwarzgesichtige Affen kamen über den Zaun geklettert und versuchten, die Frühstücksmöhren zu stehlen. Metalltore quietschten und klapperten. Männer unterhielten sich leise auf Swahili. Sudan lag regungslos auf dem Boden. Die stämmigen Beine waren unter seinem Körper angewinkelt. Sein riesiger Kopf war wie ein kenterndes Schiff zur Seite gekippt. Sein großes Vorderhorn war stumpf, vernarbt, abgenutzt. Er atmete schwer und unregelmäßig.

Um ihn herum war die Savanne meilenweit in alle Himmelsrichtungen mit Leben erfüllt: Warzenschweine, Zebras, Elefanten, Giraffen, Leoparden, Löwen, Paviane. Geschöpfe, die machten, was sie schon seit Millionen von Jahren getan haben. Jagen, fressen, nach Nahrung suchen, atmen, existieren. Bis vor Kurzem war Sudan Teil dieses Lebensrhythmus gewesen. Doch nun konnte er sich kaum noch bewegen. Eine gigantische Stille inmitten all des Treibens, das ihn umgab.

Das Grab von Sudan
Denkmal
Im Reservat liegt auch das Grab von Sudan, dem letzten männlichen Nördlichen Breitmaulnashorn. Er starb 2018
© Jack Davison/The New York Times

Sudan war das letzte noch lebende männliche Nördliche Breitmaulnashorn der Welt – das Ende einer evolutionären Stammlinie, die mehrere Millionen Jahre zurückreichte. Sein Tod war eine Katastrophe, kam jedoch nicht überraschend. Er war der düstere Höhepunkt der Artenschutzkrise, die sich über Jahrzehnte auf genau diesen Moment zugespitzt hatte.

Vor aller Augen verschwunden

45 Jahre alt war Sudan, uralt für ein Nashorn. In seinen letzten Lebensjahren war er zu einer Art Berühmtheit geworden. Er wurde wie ein ehemaliger Präsident rund um die Uhr von bewaffneten Bodyguards bewacht. Aus der ganzen Welt kamen Besucher angereist, um ihn zu sehen.

Obwohl Sudan das letzte lebende männliche Nördliche Breitmaulnashorn war, war er nicht der letzte Vertreter seiner Art. Er hatte noch zwei lebende weibliche Nachkommen: seine Tochter Najin und seine Enkelin Fatu. Die beiden verbringen ihren Lebensabend in einem merkwürdigen existenziellen Dämmerzustand, den Wissenschaftler mit herzzerreißender Nüchternheit "funktionelles Aussterben" nennen. Ihre Gattung ist nicht mehr lebensfähig. Zwei weibliche Nashörner allein werden die Spezies nicht retten können.

Massenaussterben ist für uns ein Ereignis der Urzeit. Wir erwarten nicht, dass Arten direkt vor unseren Augen aussterben. Doch der Moment war nun gekommen: 19.März 2018. Sudans Pfleger rieben seine grobe, schuppige Haut, nahmen Abschied und entschuldigten sich für das zerstörerische Verhalten der Menschen. Dann wurde er von Veterinären eingeschläfert. Kurz atmete er schwer. Dann starb er.

Ein Medienspektakel

Sudans Tod löste ein Medienspektakel aus. Ein Foto, auf dem einer der Pfleger ihn liebevoll streichelt, verbreitete sich über die sozialen Netzwerke wie ein Lauffeuer. Das Nashorn-Reservat wurde förmlich überrannt. Doch schon bald wandte sich das Interesse der Weltöffentlichkeit unweigerlich wieder anderen Dingen zu.

Im Mai 2019, etwas mehr als ein Jahr nach Sudans Tod, veröffentlichte die UN eine Studie zum Thema Massenaussterben: Eine Million Pflanzen- und Tierarten seien von der Vernichtung bedroht. Eine Million ist nur eine Zahl. Dahinter verbergen sich jedoch ungezählte Einzelwesen: Frösche, Fledermäuse, Tiger, Bienen, Aale. Zusammengenommen bilden diese Tiere ein ungeheures Archiv: eine komplexe Sammlung an Evolutionsgeschichten, die nicht einmal das hoch entwickelte menschliche Gehirn erfassen kann.

Die moderne Menschheit hat dieses Archiv in Brand gesteckt. Wir zerstören den Vaquita, einen Schweinswal, der im Golf von Kalifornien umherschwimmt. Die Weihnachtsinsel-Spitzmaus, die durch den Regenwald auf einem kleinen Fleckchen Erde mitten im Indischen Ozean herumhuscht (oder huschte, denn vielleicht ist sie bereits ausgestorben).

Und natürlich das Nördliche Breitmaulnashorn, das White Rhino.

Der einzige natürliche Feind ist der Mensch

Obwohl Nashörner gefährlich aussehen, sind sie eigentlich friedlich: Sie mampfen Gras und vermehren sich. Über Millionen von Jahren erfüllten Nashörner ihren Bestimmungszweck mit großem Erfolg. Ohne viele natürliche Feinde verbreiteten sie sich in weiten Teilen Asiens, Nordamerikas, Afrikas und Europas.

Menschen begannen mit primitiven Waffen, Nashörner zu jagen. Gegen die mit der Zeit immer stärkeren Waffen war deren natürliche Rüstung letztendlich machtlos. Genau die Eigenschaften, die die Nashörner in der Urzeit unbesiegbar machten – ihre Größe und Hörner –, wurden ihnen zum Verhängnis. Ihre Größe machte sie zu leichten Zielscheiben. Die Hörner waren als Trophäen, als Material für Dolchgriffe sowie als Zutat für traditionelle chinesische Medizin sehr begehrt.

Zu der Gewalt der Jagd kommt die Gewalt der Zerstörung ihres Lebensraums. Auch Einkaufsstraßen, Farmen, Autobahnen, Fabriken sind Waffen. Große wilde Tiere brauchen weite Lebensräume. Doch die Menschheit hat so gut wie keinen Flecken auf der Erde unberührt gelassen.

Dies hat zu der allmählichen Ausrottung der Nashörner geführt. Die letzten Exemplare des Java-Nashorns, das einst in ganz Südostasien zu Hause war, leben heute in einem Nationalpark in Indonesien. Vom Sumatra-Nashorn existieren heute weniger als 80 Tiere.

Gebraucht wurde ein Wunder

Keine Art ist jedoch gefährdeter als das Nördliche Breitmaulnashorn. Sein natürlicher Lebensraum in Zentralafrika wurde Ende des 20. Jahrhunderts von Bürgerkriegen erschüttert. Jegliche Konservierungsversuche wurden dadurch so gut wie unmöglich gemacht. Die Population war bis zu den 70er Jahren auf 700 geschrumpft. Mitte der 80er Jahre gab es noch 15 Nördliche Breitmaulnashörner in freier Wildbahn. 2006 existierten noch vier und 2008 schienen sie als Folge von Wilderei ausgerottet zu sein.

Glücklicherweise gab es einen Notfallplan. In den 70er Jahren war ein kleiner Reservebestand gefangen und in einen Zoo transportiert worden. Doch leider starben die Tiere dort schneller, als sie sich vermehren konnten. 2009 wurden die einzigen vier verbliebenen Zuchttiere Sudan, Suni, Najin und Fatu in ein Reservat in Kenia gebracht. Man hoffte, dass ihr natürlicher Lebensraum etwas tief Verborgenes in ihrer Biologie erwecken könnte.

Najin und Fatu mit ihrem Pfleger
Mensch und Tier
Morgens gibt es Massagen, abends Streicheleinheiten. Najin und Fatu werden umsorgt und gehütet
© Jack Davison/The New York Times Licensing Group/Redux

Doch das erhoffte Wunder blieb aus. Erst starb Suni und dann Sudan. Plötzlich waren nur noch zwei Nördliche Breitmaulnashörner übrig. Sie waren immer noch da draußen in der Savanne und machten, was schon ihre Vorfahren getan hatten: Gras fressen und im Schatten der Bäume ruhen. Doch nun war jeder Bissen Gras, den sie nahmen, näher an dem letzten, den ihre Art jemals nehmen würde.

Nach Sudans Tod konnte ich nicht aufhören, an die beiden letzten Vertreter ihrer Art zu denken. Ich fand ihre bloße Existenz auf eine merkwürdige Art und Weise ermutigend. Obwohl ihre Geschichte tragisch war, waren sie es selber nicht. Sie waren einfach zwei Nashörner. Sie zu treffen, war eine Gelegenheit, dem Massenaussterben direkt ins Gesicht zu schauen.

Die beiden letzten ihrer Art

Auf dem Flug von New York nach Kenia las ich ausgiebig über White Rhinos. Sie sind eigentlich gar nicht weiß. Ihr Name beruht höchstwahrscheinlich auf einem Missverständnis seitens der Kolonialisten. Holländische Siedler nannten das Nördliche Breitmaulnashorn "wijd", was weit bedeutet. Englische Siedler verstanden "white". Das Missverständnis wurde noch weiter verstärkt, indem sie die andere Nashorngattung "schwarz" nannten. Doch das ist alles Unsinn. Beide Arten sind in klassischem Nashorn-Grau.

Von Nairobi flog ich ins Landesinnere. Auf dem Flug starrte ich auf ein Foto der letzten beiden Überlebenden. Sie stammten ursprünglich nicht aus Kenia, aber dort waren sie letztendlich im "Ol Pejeta"-Wildreservat, einer ehemaligen Rinderfarm, gelandet.

Ein Lastwagen brachte mich in das Nashorn-Schutzgebiet. Ich erblickte sie in der Ferne. Die letzten beiden Nördlichen Breitmaulnashörner. Einer der Tierpfleger holte einen großen Eimer, schwang ihn herum und kippte Snacks in großen Haufen neben unsere Füße: Möhren und Trockenfutter.

Plötzlich gerieten die Nashörner in Bewegung. Ihre Hautfalten wippten auf und ab, ihre mächtigen Köpfe schwangen hin und her. Mit einem Mal waren die Tiere lebendig. Neben diesen Kolossen zu stehen löst eine Reihe an Gefühlen aus. Zuallererst nimmt man ihre enorme Größe wahr. Breitmaulnashörner können ein Gewicht von bis zu drei Tonnen erreichen. Ihr gekrümmtes Horn kann über einen Meter lang werden. Man fühlt sich im Vergleich zu diesen pflanzenfressenden Warmblütern zugleich sehr präsent und winzig klein.

Lernen von den Artgenossen

Sudans Tochter Fatu graste so dicht neben uns, dass ich ihre Haut genau studieren konnte. Sie war mit tiefen Falten und Kerben versehen. An einigen Stellen sah sie wie ein undurchdringlicher Schutzschild aus. Aber dort, wo sie sich übereinanderfaltete, wirkte sie so geschmeidig wie zähflüssige Karamellsauce, die langsam über Eiscreme gegossen wird. Fatu war so nahe herangekommen, dass ich sie berühren konnte. Nichts war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ihre Haut war nicht weich, sondern schuppig, trocken und kratzig.

Als Najin und Fatu 2009 nach Afrika transportiert wurden, waren sie sehr ängstlich und zuckten bei jedem Windstoß zusammen. Sie waren in einem Zoo in Tschechien geboren und aufgezogen worden. Sie hatten keine Ahnung, was es bedeutete, ein wildes Nashorn zu sein. Daher zog "Ol Pejeta" zur Unterstützung eine Art Tutor hinzu: ein wildes Südliches Breitmaulnashorn, das als Art eng verwandt ist. Sie hieß Tauwo.

Allein durch ihr natürliches Verhalten in freier Wildbahn brachte Tauwo den beiden Nördlichen Breitmaulnashörnern bestimmte Fertigkeiten bei: ihre Hörner an den Metallgittern, die das Gehege einzäunten, zu schärfen und ihr Revier durch riesige Misthaufen abzugrenzen. Vor allem nahm Tauwo ihnen die Angst vor Afrika: vor dem Wind, der durch die Akazien weht, den Hasen oder den kleinen Vögeln, die unentwegt auf ihrem Rücken herumhüpften.

Die Mutter kann sehr streng sein

Mittlerweile fühlen sich die beiden Nashörner im "Ol Pejeta"-Reservat zu Hause. Sie werden hier liebevoll "die Mädchen" genannt. Bei Sonnenuntergang kommen die Tierpfleger scheppernd durch eine Reihe an Toren, und die Mädchen trotten aus ihren Gehegen, um sie zu begrüßen.

Breitmaulnashörner sind überraschend entspannt. Sie gelten nicht als ausgesprochen angriffslustig, können einen Menschen jedoch töten, wenn sie sich bedrängt fühlen. Die beiden Mädchen sind besonders gutmütig. Ihr Tag beginnt oft mit einer gründlichen Massage durch einen der Pfleger. Vor allem Najin, die Ältere und Sanftmütigere, genießt diese morgendliche Routine. Sie kommt erwartungsvoll angelaufen. Dann hält sie ihren enormen Körper hin und atmet seicht, während der Pfleger ihr Stirn, Bauch und Ohren reibt.

Die Nashörner Najin und Fatu
Massive Präsenz
Najin (r.) ist die dominante Kuh, Fatu schlägt auch mal über die Stränge. Und spürt dann das Horn der Mutter
© Jack Davison/The New York Times Licensing Group/Redux

Für einen flüchtigen Betrachter mögen die Mädchen identisch aussehen, aber für ihre Pfleger sind sie so unterschiedlich, wie zwei Verwandte eben sein können. Najin, die Mutter, hat schwache Hinterbeine und eine markante Linie am Ende ihres Vorderhorns. Das Mal stammt von einer Säge, mit der das Horn vor Jahren gestutzt wurde. Sie ist entzückend, entspannt und kann – zumindest mit ihrer Tochter – mitunter streng sein. Najin gibt den Ton an. Wenn Fatu Anstalten macht, die Hierarchie zu durchbrechen, weist ihre Mutter sie durch einen schnellen Stoß mit dem Horn in die Schranken. Fatu ist in ihren Zwanzigern. Sie hat noch viel Energie, ist neugierig, unberechenbar und mitunter recht wild.

Die kenianischen Pfleger wohnen in einer Ansammlung von Hütten gleich neben dem Gehege der Mädchen. Ihr Tag beginnt bei Sonnenaufgang, wenn Najin und Fatu aufwachen, und endet bei Sonnenuntergang, wenn die beiden zum Schlafen in ihre Gehege zurückkehren. Die Pfleger verbringen mehr Zeit mit ihnen als mit den eigenen Familien. Oft reicht ein kurzer Blick, um die Stimmung zu erkennen. Sie träumen nachts oft von den Nashornkühen.

"Können Sie sich vorstellen, das Aussterben einer Art mitanschauen zu müssen?"

Während meines einwöchigen Aufenthalts in dem Reservat begleitete ich die meiste Zeit einen der jüngeren Pfleger, James Mwenda. Mit seinen 31 Jahren ist er genauso alt wie Najin. Mwenda spricht mit den Nashörnern in einem heiseren, liebevollen Ton. Er nennt sie "Mama" und "braves Mädchen".

Als Sudan erkrankte, lastete die Vorstellung ihrer Ausrottung schwer auf Mwenda. "Es nimmt einen emotional sehr mit. Ich will nicht versagen. Können Sie sich vorstellen, das Aussterben einer Art mitanschauen zu müssen?"

Die Erfolgschancen sind äußerst gering, doch es gibt noch einen letzten verzweifelten Versuch, die Unterart der Nördlichen Breitmaulnashörner vor dem Aussterben zu retten. Weder Najin noch Fatu sind in der Lage, Nachwuchs auszutragen, doch wenn ihre Eizellen mit eingefrorenem Sperma befruchtet und in den Uterus eines gesunden Südlichen Breitmaulnashorn- Weibchens eingepflanzt werden, könnte ein lebensfähiges Kalb geboren werden.

Mein Besuch in Kenia ereignete sich nur wenige Wochen vor dem ersten Versuch, den beiden Mädchen Eizellen zu entnehmen. Es war ein kompliziertes Unterfangen. Alle waren nervös. Einige der möglichen Szenarien hätten katastrophale Folgen: Die Kühe haben keine befruchtungsfähigen Eizellen, oder es treten während des Eingriffs Probleme auf, die zum Tod der Nashörner führen. Zacharia Mutai ist der Hauptpfleger der Breitmaulnashörner. Er gab zu, so gestresst zu sein, dass er unter Schlafstörungen leide.

Nichts existiert in Isolation

Die Frage ist harsch, aber muss gestellt werden: Aus welchem Grund soll eine spezielle Unterart der Nashörner gerettet werden? Zyniker werden argumentieren, dass die Erde kein Museum ist. Die Menschheit unterliegt keinerlei heiliger Verpflichtung, den ökologischen Status quo zu bewahren. Die Natur ist brutal. Arten kommen und gehen.

Die Antwort darauf lautet, dass nichts in Isolation existiert. Ein Nashorn ist nicht einfach nur ein Nashorn. Es ist ein wichtiger Stützpfeiler in dem elaborierten Ökosystem. Sein bloßes Dasein und seine tägliche Routine tragen zur Erhaltung einer intakten Umwelt bei. Ganze Kolonien von Insekten ernähren sich vom Dung der Nashörner. Vögel fressen die Insekten, und andere Raubtiere jagen die Vögel. Menschen tun gern so, als ob sie mit diesen gegenseitigen Abhängigkeiten nichts zu tun hätten. Doch auch wir Menschen sind Teil dieses Ökosystems.

Irgendwann müssen wir in diesem Zusammenhang über Liebe reden. Die Liebe, die Nashörner geben und annehmen. Unsere Kultur fördert eine solche Diskussion nicht. Liebe generiert keine Statistiken. Liebe wird in politischen Debatten ignoriert. Und dennoch ist die Liebe letztendlich die Quelle all unserer wesentlichen Wertvorstellungen.

Najin und Fatu lieben sich ganz offensichtlich. Es besteht kein Zweifel, dass die Pfleger die Mädchen lieben. Und die Mädchen, insofern Nashörner dazu in der Lage sind, scheinen ihre Pfleger zu lieben. Nach nur ein paar Stunden hatte auch ich mich in diese Geschöpfe verliebt. Besonders Najin hatte es mir angetan. Ich wollte am liebsten die ganze Zeit neben ihr stehen. Meine Liebe zu den Mädchen ließ mich über ein grundlegendes Dilemma nachdenken: Liebe hat eine begrenzte Reichweite.

Ein Nashorn
Falten und Horn
Die dicken Lagen Haut sind empfindlich und vernarben leicht. Gegen Sonnenbrand hilft Schlamm
© Jack Davison/The New York Times Licensing Group/Redux

Menschen werden mit einem Bedürfnis nach Liebe geboren und können mit ihrer Hilfe schier unglaubliche Dinge vollbringen. Doch die Liebe hat eine Reichweite von knapp 30 Metern. Sie ist wie eine Lampe, die unser Zuhause erleuchtet. Sie umhüllt unsere Familien und Haustiere. Doch Liebe kann Ozeane nicht mit der notwendigen Intensität überqueren. Sie kann keine Menschen in Not oder bedrohte Tiere in der Ferne erreichen.

Wir lieben, was uns nahe ist.

Die begrenzte Reichweite der Liebe

Das ist insbesondere bei einer Krise wie dem Massenaussterben ein Problem. Es können nicht alle 7,7 Milliarden Menschen eine Woche bei den Mädchen verbringen. Das heißt jedoch auch, dass der Großteil der Menschheit die beiden nicht wirklich lieben wird. Aus diesem Grund werden wir niemals kollektiv mit der Dringlichkeit und Intensität handeln, die wahre Liebe ausmacht und die notwendig ist, um Arten vor dem Aussterben zu retten.

Die Mädchen sind nur ein Beispiel. Was ist mit dem nordwestlichen Borneo-Orang-Utan? Dem amerikanischen Schwarzfußiltis? Dem Panda, der Echten Karettschildkröte, dem Cross-River- Gorilla? Was ist mit dem Amazonas- Regenwald?

Die Menschheit muss mit einer Art Prothese ausgestattet werden, mit deren Hilfe die Reichweite ihrer Liebe ausgedehnt werden kann.

Ein paar Tage nach meiner Abreise im August 2019 erfuhr ich, dass der Eingriff erfolgreich verlaufen war. Dem Team von Wissenschaftlern war es gelungen, Fatu und Najin einige Eizellen zu entnehmen. Davon wurden sieben erfolgreich befruchtet, aus denen drei Embryonen erzeugt wurden. Sie lagern jetzt auf Eis und warten auf die nächsten Schritte: Einpflanzung, Austragung, möglicherweise eine Geburt. Die Erfolgsaussichten sind gering, und Wissenschaftler warnen, dass das vorhandene genetische Material womöglich nicht ausreicht, um eine neue Population von Nördlichen Breitmaulnashörnern zu züchten.

"Hast du schon einmal ein Nashorn schnarchen hören?"

Nach meiner Rückkehr schaute ich mir zu Hause unentwegt die Fotos und Videos der Nashörner an. Es war ein Versuch, die Zeit mit ihnen festzuhalten. Jedoch war es unvermeidbar, dass sie mir allmählich entglitten. Ihre massive Präsenz verwandelte sich in eine massive Abwesenheit.

Einige Monate später wollte ich anfangen, über die Mädchen zu schreiben, als die Welt von einer Pandemie erfasst wurde. Alles wurde lahmgelegt. Es war schwierig, sich auf das Massenaussterben zu konzentrieren, wenn unsere eigene Gattung vor unseren Augen litt und starb. Dennoch ließen Najin und Fatu mich nicht los. Ihr Dasein gab mir Halt. Es war irgendwie beruhigend, zu wissen, dass die beiden immer noch irgendwo da draußen waren und nebeneinander Gras fraßen.

Najin und Fatu ruhen sich aus
Gras und Sonne
Der Tag von Fatu (v.) und Najin besteht aus Grasfressen und Ausruhen
© Jack Davison/The New York Times Licensing Group/Redux

Ein Moment ging mir immer wieder durch den Kopf.

"Hast du schon einmal ein Nashorn schnarchen hören?", fragte James Mwenda mich eines Nachmittags. Wir saßen am Rand eines Lochs – ein verlassener, eingestürzter Bau eines Erdferkels. Nicht weit von uns entfernt machten die Mädchen ein Schläfchen. Ein Wirrwarr an Vogelstimmen umgab uns: Zwitschern, Surren, Piepsen, Gurren. Und ja, inmitten all der Geräusche hörte man eines der Nashörner schnarchen.

Gepanzert, aber wehrlos

Das hatte ich noch nie zuvor gehört. Das Schnarchgeräusch kam von Najin. Fatu lag neben ihr und schlief ruhig. Die beiden sahen gepanzert, aber wehrlos aus. Bezaubernd und traurig. Plötzlich, inmitten von Najins Schnarchen, vernahmen wir ein weiteres Geräusch, das uns von der Steppe erreichte. Ein Grollen, lauter als das Schnarchen. Es klang wie ein Posaunist, der sich einspielt und die Akustik in einem großen Konzertsaal testet. Es war ein Nashorn-Furz. Eines der Mädchen ließ im Schlaf einen fahren – nachdrücklich, ernsthaft, lieblich, ungehemmt.

Als das Geräusch verstummte, fragte ich Mwenda, ob er wisse, von welchem der Nashörner es kam.

Er lachte.

"Von beiden. Von beiden zusammen – gleichzeitig."

Es war ein magischer Moment. Ich musste irrsinnig lachen und freute mich wie verrückt. Das Leben kommuniziert mit uns in so vielen Sprachen. Die letzten beiden noch lebenden Nördlichen Breitmaulnashörner, Mutter und Tochter, hatten glücklich schlummernd in perfektem Einklang miteinander gefurzt. Mwenda und ich waren gerade Zeugen der seltensten Sinfonie der Welt geworden.

Ein biologischer Akkord, dessen Klang sich erhob, verhallte, sich verteilte und ausbreitete.

Erschienen in stern 5/2021

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