Herr Schmolcke, Sie haben ein Buch über Bilanzen geschrieben. Gleich zu Beginn erklären Sie dort, dass Bilanzen sexy seien. Eine sehr exklusive Meinung. Wie kommen Sie dazu?
Ja, die Disziplin hat den Ruf, trocken und langweilig zu sein. Das liegt sicherlich an ihrer Selbstdarstellung. Aber eigentlich sind Jahresabschlüsse wie eine komplexe, spannende Serie, die nur eine Folge im Jahr herausbringt. Erst im Zeitraffer, also mehrere Abschlüsse hintereinander, wird die Geschichte richtig interessant.
Jedenfalls, wenn man die Abschlüsse versteht…
Das ist meine Mission. Ich habe in verantwortlichen Positionen über 20 Jahre lang Bilanzen hergestellt, teilweise mit geradezu körperlichem Einsatz. Aber oft haben sie nicht einmal die eigenen Mitarbeiter gelesen. Und in den Schulungen, die ich nun seit Jahren gebe, stelle ich immer wieder fest: Selbst Aufsichtsräte, Juristen und Manager wissen oft nicht, wie sie eine Bilanz richtig lesen. Das ist schade, weil darin so viele hochwertige Informationen versteckt sind.
Woran liegt es, dass selbst Aufsichtsräte und Manager keine Bilanzen lesen können?
Das Witzige ist: Alle glauben, dass alle anderen es können. Tatsächlich gibt es aber gar keine Ausbildung, in der man die Analyse eines Abschlusses wirklich lernt. Ich erinnere ich mich bis heute, wie enttäuscht ich deshalb im BWL-Studium war.
Dass viele Anleger kaum Bilanzen verstehen oder sie gar nicht erst anschauen, zeigt das Beispiel Wirecard. Der Aktienkurs fiel bis kurz vor der Insolvenz kaum ab, dabei hätte man in der Bilanz schon Hinweise finden können. Das schreiben Sie jedenfalls im Buch...
Bei jeder größeren Insolvenz schaue ich in die Bilanzen und frage mich, ob ich es vorher erkannt hätte. Bei Wirecard habe ich mich richtig geärgert, weil es so offensichtlich war. Wirecard hatte am Jahresende regelmäßig mehr Geld in der Kasse als sie Umsatz gemacht haben. Da hat sich ein Muster gezeigt. Wenn ich das vorstelle, bleibt den Leuten immer der Mund offenstehen. Diesen Effekt, dass man sich den Abschluss anguckt und denkt, das gibt es doch gar nicht, den erlebe ich immer wieder.
Lassen Bilanzen Sie deshalb nicht mehr los?
Wenn man erst mal anfängt Bilanzen nach einem bestimmten Schema zu lesen, wie ich das im Buch aufbereite, kriegt man plötzlich Sachen zu sehen, bei denen man denkt: Wie kann so etwas in aller Öffentlichkeit stattfinden? Alle können es nachlesen, aber niemand bekommt es mit. Das fasziniert mich.

Nikolaj Schmolcke arbeitet als Unternehmensberater für Restrukturierung und trainiert Manager, Aufsichtsräte und Juristen darin, Bilanzen richtig zu lesen. Vorher war er unter anderem Finanzdirektor bei Vapiano und CFO zweier Tochtergesellschaften der Lufthansa Technik. Sein Buch „Offene Geheimnisse“ ist am 1. Februar im Econ-Verlag erschienen.
Den Fall Wirecard nutzen Sie in Ihrem Buch öfter als Beispiel. Was kann man daran über die Bilanzanalyse lernen?
Der erste Punkt ist die Veröffentlichungsgeschwindigkeit. Wirecard war im Dax, wo es standardmäßig etwa 60 Tage dauert, bis die Wirtschaftsprüfung den Abschluss unterschreibt. Ein guter Wert sind laut dem Deutschen Corporate Governance Kodex 90 Tage. Wirecard hat für seine letzten Abschlüsse 101 und 114 Tage gebraucht. Das kommt in den besten Familien vor, aber sie müssen entsprechend erklären, warum es so lange gedauert hat. Hier kann man sich dann – das ist der zweite Punkt – den Zungenschlag angucken: Wie äußert sich der Vorstand dazu?
Wie war das bei Wirecard?
Die haben gesagt: Laut Gesetz haben wir 120 Tage Zeit, daran haben wir uns gehalten. Das stimmt natürlich, ist aber weder guter Standard noch wirkt es besonders sympathisch.
Sie sprechen in Ihrem Buch öfter von diesem bestimmten Zungenschlag. Wie erkenne ich, ob sich dahinter wirklich ein Hinweis verbirgt oder ob es einfach nur kompliziert formuliert ist?
Je öfter man Bilanzen liest, desto geübter wird man natürlich. Grundsätzlich sollte eine gute Erklärung aber immer kurz und verständlich sein. Ist sie kompliziert, kann man hinterfragen, ob das in Ordnung ist. Wenn einem das bei mehreren Komponenten in einer Bilanz so geht und vielleicht ein Muster erkennbar wird, hat man schon ein Gefühl dafür, wie sympathisch einem das Unternehmen ist.
Geht es beim Lesen von Bilanzen denn um Gefühle und Sympathie?
Gefühle machen meiner Meinung nach mindestens die Hälfte der persönlichen Einschätzung aus. Der Gesetzgeber verpflichtet Unternehmen dazu, diese Erklärungen abzugeben, damit sich alle eine Meinung bilden können. Es ist gewollt, dass das auf einer sprachlichen Äußerung des Vorstands basiert. Sie dürfen als Leser deswegen durchaus in sich hineinspüren und sich fragen: Wie finde ich es, dass das Unternehmen seine Bilanzen so spät veröffentlicht? Würde ich bei diesem Unternehmen meine Altersvorsorge anlegen? Ihre Einschätzung kann subjektiv sein oder falsch, aber Sie haben eine begründete Meinung entwickelt.
Wenn ich mir eine Bilanz vornehme, achte ich also auf das eigene Gefühl und schaue mir zuerst den Zeitpunkt der Veröffentlichung an.
Die allererste Frage ist immer: Gibt es überhaupt eine Bilanz? Und wenn nicht, warum nicht? Dann schauen Sie nach dem Zeitpunkt. Den halte ich für so wichtig, weil die Abschlussgeschwindigkeit etwas über die Prozessbeherrschung des Unternehmens aussagt, also wie gut ein Unternehmen organisiert ist. Das kommt historisch von den angelsächsischen Märkten, wo es sogar unmittelbar kursrelevant ist. Wenn Sie sich auf Basis der Veröffentlichung und der Erklärungen des Vorstandes Ihren Eindruck gemacht haben, nehmen Sie sich als drittes den Zahlenteil vor.
Bei Wirecard hat die Wirtschaftsprüfung die Abschlüsse für gut befunden. Warum hat sie die Hinweise, die Sie genannt haben, nicht erkannt?
Natürlich war ich nicht dabei, aber die Prüfer sind ganz offensichtlich professionell betrogen worden. Andererseits hätten sie präziser arbeiten können, das zeigt der Abschlussbericht der Prüferaufsicht APAS. Die Frage ist insofern nicht leicht zu beantworten. Die Wirtschaftsprüfung hat das Ziel, Abschlüsse frei von wesentlichen Fehlern zu unterschreiben. Die Arbeit ist wahnsinnig komplex, gerade bei global agierenden Unternehmen. Jede Zahl und jeder dazugehörige Beleg muss überprüft werden. Aber Wirtschaftsprüfer sind keine Staatsanwälte oder die Polizei. Wenn man ihnen gut vorbereitete Belege und Prozesse präsentiert, kann man auch eine kritische Wirtschaftsprüfung massiv täuschen. Wer schon mal betrogen wurde, kann bestätigen, dass Betrüger nette Leute sind und man ihnen deswegen auch auf den Leim geht.
Die APAS urteilte im Dezember, dass EY seine beruflichen Sorgfaltspflichten bei Wirecard verletzt hat.
Das gesamte prüferische System beruht darauf, dass sich diverse Institutionen gegenseitig prüfen. Wenn die APAS zu einer Einschätzung gelangt, dann tut sie das auf Basis knallhart überprüfbarer Belege. Daher kann ich mich dieser Bewertung anschließen.
Signa hat Abschlüsse verspätet veröffentlicht
Wurden Sie schon mal betrogen?
Ja, da war ich gerade neu als Geschäftsführer. Jemand hat sich ein operatives Darlehen geben lassen, alles sah gut aus. Aber dann ist das Unternehmen pleite gegangen. Es hat auch schon mal eine Fluggesellschaft die Zeche über eine Million US-Dollar geprellt. Die Air Luxor ist nach einer größeren Reparatur einfach davongeflogen, unsere Rechnung wurde nie bezahlt. Wir haben irgendwann Leute zum portugiesischen Büro der Airline geschickt, um festzustellen, dass dort niemand mehr ist. Wenn ich in diesen beiden Fällen eine Analyse gemacht hätte, wie ich sie heute routinemäßig mache, wäre das nicht passiert.
Neben Wirecard führen Sie auch den VW-Dieselskandal in Ihrem Buch öfter als Beispiel an. Gibt es aktuell ein Unternehmen, dessen Bilanzen Sie besonders interessieren?
Ich schaue bei jeder größeren Insolvenz hin. Zuletzt war Signa aus Österreich ja sehr prominent in den Medien. Bei einem Blick ins Österreichische Firmenbuch, wo die Abschlüsse zu finden sind, fällt direkt wieder das Veröffentlichungsdatum auf: Die letzten Abschlüsse wurden teilweise mit mehrjähriger Verspätung veröffentlicht. Wirklich interessant ist aber, dass man nirgendwo einen Abschluss für den Gesamtkonzern finden kann. Es gibt nur einen Teilkonzernabschluss für die Tochtergesellschaft Signa Prime Selection. Darin steht – das findet man nach ein bisschen Suchen –, dass der Mutterkonzern Signa „maßgeblichen Einfluss“ auf die Signa Prime ausübt. An dieser Stelle wird es schon richtig heikel.
Und was verraten die Zahlen?
Da sehe ich, dass die Kreditverbindlichkeiten bei insgesamt 6,7 Mrd. Euro liegen. In der Gewinn- und Verlustrechnung sieht man außerdem 2021 einen Umsatz von 438 Mio. Euro und einen Gewinn von 732 Mio. Euro – die haben ihr Vermögen hochbewertet. Mit diesem Wissen und mit dem, dass es nicht einmal einen Gesamtkonzernabschluss gibt, hätten Sie denen auch nur einen einzigen Euro gegeben? Das kann sich jeder fragen.
Ist Ihr Buch letztlich auch eines über Psychologie?
Im Subtext ja. Aber vor allem geht es um die Nutzung öffentlich verfügbarer Informationsquellen. Alle Dinge, über die wir gesprochen haben, kann man innerhalb von zehn Minuten herausfinden und ich hoffe, dass ich mehr Menschen dazu kriege, einfach mal in Bilanzen reinzuschauen.
Dieser Artikel erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Capital", das wie der stern Teil von RTL Deutschland ist.