Flugzeugbauer Boeing: Bericht zu Zwischenfall zeigt "massivste Qualitätsprobleme"

Boeing-Beschäftigte hören CEO Stan Deal zu
Boeing-Beschäftigte hören Ende Januar im Werk in Renton einer Rede von CEO Stan Deal zu
© ASSOCIATED PRESS / Picture Alliance
Nach zwei tödlichen Abstürzen schien der Flugzeugbauer Boeing seine Qualitätsmängel in den Griff bekommen zu haben. Doch die vorläufigen Ermittlungsergebnisse zum Zwischenfall mit einer 737-Max zeigen klar, dass die Probleme tiefer sitzen.

Fotos zeigen ein türgroßes Loch in der Wand des Flugzeugs, von der Decke baumeln Sauerstoffmasken. Aus der Boeing des Typs 737-Max-9, die vor rund einem Monat auf dem Weg von Portland nach Ontario war, riss kurz nach dem Start ein Fenster heraus. Die Maschine der Alaska Airlines konnte sicher landen, niemand wurde schwerer verletzt. Doch für den US-amerikanischen Flugzeugbauer Boeing reiht sich der Vorfall in eine längere Liste von Qualitätsproblemen ein. Rund vier Jahre nach den tödlichen Abstürzen zweier Jets aus der 737-Max-Reihe und dem darauffolgenden Einbruch des Aktienkurses, schien sich der Konzern zu erholen. 

Der vorläufige Bericht der Ermittlungsbehörde NTSB zu dem Zwischenfall zeigt nun, dass Boeing für das verantwortlich ist, was passiert ist. Ein Luftfahrtexperte spricht gegenüber Capital von "massivsten Qualitätsproblemen" in der Kontrolle, die sich durch die neuen Erkenntnisse zeigen. Boeing-Chef Dave Calhoun gestand nach Veröffentlichung des Berichts die Schuld an dem Zwischenfall im Januar ein: "Wie auch immer die endgültigen Schlussfolgerungen ausfallen werden, Boeing ist verantwortlich für das, was passiert ist. Ein Vorfall wie dieser darf in einem Flugzeug, das unser Werk verlässt, nicht passieren."

Diese ernsthaften Qualitätsmängel ramponieren das Image des einstigen Branchenführers. Experten sehen sich darin bestätigt, dass das Problem tiefer sitzt, selbst wenn sich die finanziellen Auswirkungen zunächst in Grenzen gehalten haben dürften.

Falsch gebohrte Löcher, mangelhafte Software

Im Boeing-Werk bei Seattle werden gerade jeden Monat knapp 38 Flugzeuge gebaut, doch Konkurrent Airbus hat Boeing mittlerweile überholt – und fertigt in derselben Zeit fast doppelt so viele. Trotz Lieferverzögerungen versucht Boeing das Tempo beim Bau seiner Max-Flugzeuge zu erhöhen. Erst bei Auslieferung bekommt der Flugzeugbauer Geld. Bis 2026 soll der freie Cashflow des Konzerns auf jährlich 10 Mrd. US-Dollar steigen – 2022 lag er bei weniger als 3 Mrd. Das Tempo ist also entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Doch wird aufgrund des Zeitdrucks möglicherweise auch bei der Qualität gespart?

Boeing verneint das und erklärte, dass Sicherheit weiterhin oberste Priorität habe. Doch dass der Flugzeugbauer alles unter Kontrolle hat, glauben längst nicht alle Investoren – und mehr Tempo bei der Produktion wird es nun zunächst auch nicht geben. Die US-Luftfahrtbehörde FAA hat Boeing als Folge der Beinahe-Katastrophe im Januar offiziell verboten, die Produktion der 737 MAX von 38 auf 50 Maschinen pro Monat zu erhöhen.

Der Zwischenfall betrifft zwar einen wichtigen Zulieferer von Boeing, Spirit Aerosystems, der den Rumpf der Max-Flugzeuge baut und dann nach Seattle schickt. Doch der vorläufige Bericht der zuständigen Ermittlungsbehörde NTSB in den USA legt offen, dass an dem herausgerissenen Rumpfteil der Boeing 737-9 Max offenbar vier wichtige Bolzen fehlten. Hinter der Tragfläche befinde sich im Rumpf der Maschine ein Loch, erklärt Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt gegenüber Capital. Bei einer größeren Zahl von Passagieren könne dort ein zusätzlicher Notausstieg eingebaut werden, sonst werde die Öffnung mechanisch verschlossen. Dieser Verschluss war nach ersten Erkenntnissen aber offenbar nicht vorhanden, sodass sich das Teil kurz nach dem Start der Maschine löste. 

"Dass das Teil praktisch überhaupt nicht befestigt war, ist schlicht nicht vorstellbar", sagt Großbongardt. "Es ist inzwischen deutlicher als je zuvor, dass es Boeing bei massivste Qualitätsprobleme in der Kontrolle gibt." Wenige Tage nach dem Zwischenfall fanden United Airlines und Alaska Airlines beim Überprüfen der weiteren Max-Maschinen lose Schrauben – an eben dem Rumpfbauteil, aus dem das Fenster herausgebrochen war. 

Dieser Vorfall ist bei Weitem aber nicht der einzige: 2023 wurden an einigen Boeing-Maschinen falsch gebohrte Löcher und unsachgemäß hergestellte Beschläge festgestellt. 2018 und 2019 führte eine mangelhafte Cockpit-Software bei der 737-Max-8 sogar dazu, dass zwei Flugzeuge abstürzten und 346 Menschen ums Leben kamen.

Bericht: Profit auf Kosten der Sicherheit

Im Abschlussbericht des US-Repräsentantenhauses zu den Hintergründen der beiden Abstürze war damals von kulturellen Problemen bei Boeing die Rede. "Die wichtigsten Untersuchungsergebnisse dieses Berichts weisen auf eine Unternehmenskultur hin, die dringend einen Sicherheits-Reset benötigt", lautete ein Fazit des Berichts. Das Unternehmen sei seit der Jahrtausendwende zu sehr auf Profit getrimmt, auf Kosten der Sicherheit.

Bei Boeing hatten immer weniger Ingenieure das Sagen, weil die Trennung der Bereiche Finanzen und Technik aufgeweicht wurde. "Das hat zu vielen Fehlentscheidungen in der Produktion geführt und dazu, dass sich die Qualität über längere Zeit verschlechtert hat", sagt Großbongardt, der zehn Jahre lang Sprecher bei Boeing war. "Jetzt versucht man, das Ganze zurückzudrehen, aber das ist ein langer Weg." Kulturell sei außerdem ein Problem, dass es jahrelange Konflikte zwischen Boeing und Gewerkschaften gegeben habe, die die interne Stimmung und Motivation im Unternehmen verschlechtert hätten.

171 Maschinen des 737-Max-Typs mussten vorerst am Boden bleiben, wie die US-Luftfahrtbehörde FAA anordnete. Auch andere Behörden weltweit erteilten ihnen Flugverbot. Immerhin macht die Max-9 derzeit ohnehin nur etwa ein Prozent der weltweiten Flotte aus. Gemessen an ihren Sitzplätzen ist der Anteil an der weltweiten Kapazität sogar noch geringer. 

Analysten sehen trotz Verlusten Potenzial für Boeing-Aktie

Die Wartung dieser aus dem Verkehr gezogenen Maschinen wird wahrscheinlich 18 Mio. Dollar kosten und bis zu acht Stunden dauern. 2019 war der Aufwand deutlich größer, damals durften Max-8-Maschinen fast zwei Jahre lang nicht starten. "Im Vergleich dazu, was vor ein paar Jahren mit der Max los war, ist dieses Problem eher klein", sagt Großbongardt. "Aber es hätte durchaus mehr passieren können. In der Reputation von Boeing ist das wieder ein zusätzlicher Kratzer."

Ein Blick in die Bilanzen von Boeing zeigt, dass das Unternehmen bei wichtigen Kennzahlen Nachholbedarf hat. "Die Eigenkapitalquote ist schon länger sehr dünn", sagt der Bilanz-Experte Nikolaj Schmolcke. "Da schlägt eine Krise gleich durch."

Im vergangenen Jahr hatte sich die Boeing-Aktie relativ gut geschlagen. Zum Start der Börsenwoche nach dem Zwischenfall brach der Kurs allerdings um sieben Prozent ein auf knapp 211 Euro. Für Analysten war das zunächst kein Grund, ihre Einschätzung zu dem Unternehmen grundlegend zu ändern: Laut Morningstar-Analyst Nicolas Owens kann die Aktie auf 232 US-Dollar zulegen. Seiner Meinung nach werden die Inspektionen oder Änderungen der Herstellung keine wesentlichen finanziellen Auswirkungen für Boeing und seine Kunden haben. 

Davon ging auch die Deutsche Bank aus: "Die Aktie wird sicherlich nach unten eröffnen, und die kurzfristige Hausse ist eher gefährdet", sagt Scott Deuschle, Analyst bei der Deutschen Bank in New York. Dies gelte allerdings nur so lange, bis die Max-9-Flotte erstens wieder vollständig in der Luft sei, keine fehlerhaften Türstöpsel identifiziert wurden und man zweitens eine bessere Vorstellung davon habe, was die Ursache für das Versagen des Türstöpsels auf dem betroffenen Flug war.

Sollte die FAA eine umfangreichere Inspektion der Max-9 bei Boeing vor der Auslieferung verlangen, könnte sich das auf das Tempo der Auslieferungen auswirken, so Cai von Rumohr, Analyst bei TD Cowden. Die Deutsche Bank hielt einen längerern Lieferstopp für unwahrscheinlich.

Dass Kunden nun reihenwiese Maschinen bei Boeing abbestellen, glauben Experten nicht. Das Auftragspolster von Fluggesellschaften wie Lufthansa und Emirates sei gut. "Die Lufthansa hat immer jemanden beim Hersteller vor Ort, der die Bauaufsicht durchführt und prüft, ob sauber gearbeitet wird", erklärt Großbongardt. "Die werden jetzt wahrscheinlich einfach noch genauer hingucken. Niemand braucht jetzt Angst zu haben, mit dem Flugzeug abzustürzen." Auch US-Luftfahrtbehörde FAA kündigte an, Boeing nun noch genauer zu überwachen.

Dieser Artikel erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Capital", das wie der stern Teil von RTL Deutschland ist.

Mit Reuters

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