Das Jahr begann für Boeing mit einem Schock: Auf einem Flug der US-Airline Alaska riss ein Fenster aus der Maschine, die Bilder gingen um die Welt. Während die Menschen an Bord der 737-Max-9 noch mit einem Schrecken davonkamen, hat Boeing wieder mit schweren Vorwürfen zu kämpfen, die der Konzern gerade erst einigermaßen unter Kontrolle gebracht hatte.
Es ist etwa fünf Jahre her, als binnen weniger Monate gleich zwei Maschinen aus der 737-Max-Reihe abstürzten und 346 Menschen ihr Leben verloren. Und jetzt wieder: Die Pannen- und Katastrophenserie will einfach nicht abreißen. Experten vermuten schon länger, dass es sich nicht um Zufälle handelt. Vielmehr wirft man Boeing vor, systematisch an der Qualität seiner Flugzeuge zu sparen und insbesondere tiefgreifende Kontrollen der Maschinen zu vernachlässigen.
Der Dokumentarfilm "Absturz: Der Fall gegen Boeing" fasste den Zustand des US-amerikanischen Traditionsunternehmens vor etwa zwei Jahren auf schockierende Weise zusammen – lange bevor die Alaska-Maschine ihr Fenster verlor. Geändert hat sich augenscheinlich bisher wenig, auch wenn Boeing nicht müde wird, die hohe Priorität der Sicherheit immer wieder zu betonen.
Zwei Ex-Boeing-Mitarbeiter warnen
In einem Interview mit der "LA Times" warnte kürzlich ein ehemaliger leitender Manager von Boeing vor den Flugzeugen seines Ex-Arbeitgebers. "Ich würde auf keinen Fall ein Max-Flugzeug fliegen", sagte Ed Pierson der Zeitung. "Ich habe in der Fabrik gearbeitet, in der sie gebaut wurden, und ich habe den Druck gesehen, unter dem die Mitarbeiter standen, um die Flugzeuge so schnell wie möglich aus der Tür zu bekommen. Ich habe versucht, die Produktion vor dem ersten Absturz zum Stillstand zu bringen." Offenbar vergeblich.
Einst eroberte Boeing die Welt im Flug – doch dann geriet der Flugzeugbauer ins Trudeln

Auch Joe Jacobsen, ein ehemaliger Ingenieur bei Boeing und der Federal Aviation Administration, stimmt dem zu. Er sagte der "LA Times": "Ich würde meiner Familie raten, den Max zu meiden. Ich würde es wirklich jedem sagen." Die kürzlich erfolgte Wiedererteilung der Flugerlaubnis für die 737 Max-9 hält er für "voreilig".
Er riet seinem ehemaligen Arbeitgeber dazu, jetzt und sofort alle Probleme des Pannenfliegers zu beheben, statt auf die nächste Vielleicht-Katastrophe zu warten, die durch einen Defekt verursacht wird. Für ihn sei das nur eine Frage der Zeit, fügte er hinzu. "Vielleicht eine Woche, vielleicht einen Monat", schätzte er die Dauer bis zur nächsten Schlagzeile.
Beispiele für offene Baustellen der 737-Max-Reihe gibt es durchaus: Erst kürzlich zog Boeing einen Antrag auf eine Ausnahmegenehmigung für die Zulassung der 737-Max-7 zurück. Der Flugzeugbauer wollte damit eine Betriebserlaubnis für den Flieger erhalten, obwohl bekannt ist, dass die Enteisung mangelhaft und fehleranfällig ist. Während Boeing bei der kleinen Max-7 nun zunächst an der Problemlösung arbeiten will, fliegen die größeren Maschinen Max-8 und Max-9 mit ebenjener Ausnahme weiter.
Für Piloten bedeutet das: Sie sollen bis auf weiteres darauf achten, die Verwendung des fehlerhaften Systems auf fünf Minuten zu beschränken, da sich sonst aufgrund von Überhitzung Trümmerteile lösen könnten, die zum Verlust der Kontrolle über das Flugzeug führen könnten. Dank der Ausnahme hat Boeing bis 2026 Zeit, dieses Problem zu beheben – während Passagiere und Airline-Personal damit um den Globus jetten.
Für Jacobsen sind die Gründe für diese Unternehmensstrategie offenkundig. Er stimmt einer breiten Menge weiterer Kritiker zu und sagt, Boeing gehe es in erster Linie um Profitmaximierung. "In den letzten 20 Jahren haben sie sich kontinuierlich in Richtung Finanz-Engineering und nicht in Richtung technisches Engineering entwickelt", sagte er der "LA Times".
US-Behörden wollen bei Boeing genauer hinschauen
Mike Whitaker, ein Administrator der US-Flugaufsichtsbehörde FAA erklärte in einem Statement kürzlich, dass es "für Boeing keine Rückkehr zur Normalität" geben werde. "Die Qualitätssicherungsprobleme, die wir gesehen haben, sind inakzeptabel", sagte er. "Deshalb werden wir mehr Personal vor Ort haben, um die Produktions- und Fertigungsaktivitäten genau zu prüfen und zu überwachen."
Kurzfristig wolle man Boeing nicht erlauben, die Produktion der 737-Max-Reihe zu erweitern, heißt es. Parallel läuft derzeit eine Untersuchung der nationalen Verkehrssicherheitsbehörde (National Transportation Safety Board) zu Flug 1282 der Alaska Airlines. Ein Ergebnis steht noch aus.
Boeing versprach, bei den Untersuchungen zu kooperieren und gelobte Besserung. Laut CEO David Calhoun dürfe so etwas "nie wieder passieren". Ähnliche Worte hatte auch sein Vorgänger Dennis Muilenburg nach den tragischen Abstürzen der 737-MAX-8-Maschinen gefunden, wie noch immer im Pressearchiv des Unternehmens zu lesen ist – wenige Monate später verließ er Boeing.