Armut hat viele Gesichter. Das des zehnjährigen Kamil aus dem oberschlesischen Chorzow etwa. In der Schule kann er sich oft nur schwer konzentrieren - kein Wunder, denn nach der Schule geht er arbeiten, sammelt Altpapier, Schrott, alte Flaschen, um die Finanzen der Familie aufzubessern. Oder das des sieben Jahre alten Kuba aus Kattowitz, der vor Supermärkten bettelt. Oder das der 34 Jahre alten Agata aus Masuren, die im Sommer tagein, tagaus an der Landstraße steht und hofft, ein Einmachglas Beeren oder Pilze an vorbeikommende Autofahrer zu verkaufen. In Polen und den anderen neuen EU-Staaten gibt es viele Menschen wie Karnil, Agata und Kuba, die ausgeschlossen sind vom Boom in den Städten. Mit der EU- Erweiterung kommen neue Armutsinseln in das reiche Europa.
Jeder zehnte Pole lebt unter dem Existenzminimum
Wer die Warschauer Flaniermeile Nowy Swiat entlang geht, mag nicht glauben, dass Polen zu den Armenhäusern der erweiterten EU gehört. Westliche und polnische Designer, angesagte Cafes und Kneipen symbolisieren Aufbruch und Aufschwung. Und dennoch - jeder zehnte Pole lebt unter dem Existenzminimum. Als arm gilt laut Statistik mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Unter den zehn ärmsten Regionen des erweiterten Europas bilden sechs polnische das Schlusslicht.
Das weltweit größte Wohlstandsgefälle verläuft entlang der Oder, zwischen Deutschland und Polen. Doch auch in Polen gibt es deutliche Unterschiede. Zwar gibt es Verelendung auch im industrialisierten Oberschlesien, wo nach Zechenstilllegungen die Armut wächst. Doch die ärmsten Landesteile liegen im Osten, an der Grenze zur Ukraine, zu Weißrussland oder der russischen Exklave Kaliningrad. Viele Kinder kommen nur dank kostenloser Schulspeisungen zu einer warmen Mahlzeit.
Polens Kleinbauern sehen sich als Verlierer der Erweiterung
Ob die meist kinderreichen Kleinbauern in Südostpolen, die gerade mal genug Kartoffeln, Gemüse und Getreide für den Eigenbedarf anbauen, oder die Langzeitarbeitslosen auf den ehemaligen Staatsgütern, die schon seit Jahren keinen Anspruch mehr auf staatliche Leistungen haben - die meisten sehen für sich keine Perspektive. Bei der Volksabstimmung über den EU-Beitritt Polens im vergangenen Jahr war die Skepsis im Osten besonders groß. Die Menschen sehen sich bereits als Verlierer der Wende, nun glauben sie trotz der Aussicht auf Strukturförderung zu den Verlierern der Erweiterung zu werden.
Wer Hunger hat und verzweifelt ist, denkt nicht mehr an Gesetzesparagrafen.
Die Bürgermeister in den Vorkarpaten, in Masuren und der Lubliner Region sehen vor allem die Abschottung der künftigen EU-Außengrenze als Problem. Auf beiden Seiten der Grenze blüht der Schmuggel, aber auch der gesetzestreueste Beamte fühlt sich hin- und hergerissen. Denn der Handel mit Zigaretten, Wodka oder allerlei Kleinkram für die russischen und ukrainischen Schmuggler ist hier einer der wenigen verbliebenen Wirtschaftszweige. Wer Hunger hat und verzweifelt ist, denkt nicht mehr an Gesetzesparagrafen.
Kluft zwischen armen und reichen Regionen wird immer tiefer
Armut auf dem Land, gerade auf den ehemaligen Kombinaten und in den Grenzregionen zu Russland, gibt es auch in den baltischen Staaten. In Ungarn gilt ein Drittel der Landbevölkerung als arm, besonders betroffen ist der seit Jahrhunderten schwächer entwickelte Osten des Landes. Sind die Westregionen Polens, Tschechiens, Ungarns oder der Slowakei als Standorte mit niedrigen Löhnen interessant für westliche Investoren, gilt der Osten häufig als zu abgelegen - die Kluft zwischen armen und reichen Regionen wird immer tiefer.