Professor Snower, was ist an den Börsen los? Es sieht so aus, als ob das Haus brennt, und alle stürzen auf den Notausgang zu.
Genau das ist die Lage. Und es funktioniert nicht. Man trampelt sich eher tot, als dass man herauskommt. Im Grunde verhalten sich alle vernünftig. Aber was für den Einzelnen richtig erscheint, wird zur Katastrophe, wenn es alle tun.
Die Krise ist so ernst, dass selbst Banker wie Josef Ackermann nach dem Staat rufen. Es ist noch nicht lange her, da hielten sich die Banken für die Herren des Universums. Jetzt betteln sie um Hilfe.
Alleine können sie es tatsächlich nicht schaffen. Denn in der jetzigen Krise zeigt sich, dass freie Märkte ein Problem nicht bewältigen können: Dass nämlich individuell rationales Verhalten manchmal gesellschaftsschädlich ist. Die große Aufgabe des Staates ist es zu erkennen, wann er sinnvollerweise eingreift.
Und jetzt muss er es tun?
Unbedingt. Es gibt eine große Unsicherheit darüber, wo Risiken in den Wertpapierbeständen vergraben liegen. Deshalb traut keiner dem anderen; die Banken leihen sich untereinander fast kein Geld mehr. Und nur deshalb ist aus der Immobilienkrise diese gigantische Kreditklemme geworden. Der Staat muss nun dafür sorgen, dass die tatsächlichen Risiken wieder erkennbar sind.
Was heißt das konkret?
Wenn Banken neue Arten von Wertpapieren schaffen - so wie die, in denen sie Kredite gebündelt und verkauft haben -, dann muss erkennbar sein, welche Gefahren damit verbunden sind. Vor allem muss deutlich werden, wie die Risiken zusammenhängen und welche Auswirkungen es auf das gesamte System hat, wenn es Schwierigkeiten gibt. Das ist die wahre Herausforderung.
Kurzfristig helfen die Staaten aber vor allem mit Geld. Der Verkauf der angeschlagenen US-Investmentbank Bear Sterns wurde durch Milliardengarantien der amerikanischen Zentralbank versüßt. Auch die deutsche IKB oder die SachsenLB konnten sich auf Hilfe des Staates verlassen. Ist das nicht absurd?
Der Staat hat richtig im öffentlichen Interesse gehandelt. Hätte er nichts getan, wäre die Angst weiter gewachsen, und durch die Reaktionen in den Finanzmärkten hätten sich die Investoren gegenseitig geschadet und die Wirtschaft beeinträchtigt. Das Geld der Zentralbanken diente einem ähnlichen Zweck wie Impfungen in der Grippezeit.
Aber es ist doch empörend, dass die Bannerträger des Kapitalismus sich über Jahre gigantische Gewinne einstecken und von uns allen herausgekauft werden, wenn es schiefgeht.
Das Unbehagen kann ich sehr gut verstehen. Nur wird oft übersehen, dass man eine extrem regulierte Gesellschaft braucht, damit ein Marktsystem funktioniert. Wenn es keine Gesetze gibt, gibt es auch nicht Angebot und Nachfrage - dann ist Stehlen billiger. Jetzt kommt es darauf an, das Finanzsystem so zu regulieren, dass es stabil wird. Dann kommen wir erst gar nicht in Situationen, wie sie jetzt entstanden sind.
Mittlerweile sind die Börsenturbulenzen jeden Abend in der Tagesschau zu sehen. Was geht es den normalen Zuschauer in Deutschland an, wenn sich ein paar Banker in New York verzockt haben?
Die amerikanische Wirtschaft leidet und wird weiter leiden. Es ist wie bei einer Krankheit, bei der man die nächsten Stadien vorhersehen kann. Der Wert der Immobilien sinkt, dann der Konsum, dann die Investitionen, im nächsten Schritt sinkt die Beschäftigung, und dann fallen Einkommen und Konsum weiter. Das drückt die weltweite Nachfrage, was natürlich dem Exportland Deutschland schadet.
Dessen Produkte zudem in Euro bezahlt werden müssen - und der wird im Vergleich zum Dollar immer teurer.
Natürlich belastet das die deutschen Ausfuhren. Aber ein Euro-Kurs von 1,60 Dollar erscheint mir nicht so problematisch. Das ist ganz angemessen. Viel größere Sorgen macht mir, dass es insgesamt zu einer Neubewertung der Immobilien kommt. Auch in Spanien, Irland und vielen anderen Ländern sind die Immobilienpreise viel schneller gestiegen als die Einkommen. Würde das so weitergehen, könnte sich irgendwann niemand mehr ein Haus leisten. Es kann also nicht so weitergehen. Da steht ein Vermögenseinbruch an - was wieder die Exporteure trifft, also vor allem uns in Deutschland.
Ist der Aufschwung bei uns vorbei?
Das Wachstum wird sich zumindest deutlich verlangsamen. Die Risiken für die Entwicklung in Deutschland sind eindeutig gestiegen.
Müsste da nicht auch die Europäische Zentralbank handeln und nach dem Vorbild der Amerikaner die Zinsen senken?
Das glaube ich nicht. Denn wir haben einen großen Vorteil, den wir nicht verspielen dürfen: nämlich niedrige Inflationserwartungen. In den letzten 15 Jahren ist das Arbeitsangebot, das für die globale Wirtschaft relevant ist, um ein Drittel gestiegen. Das hat einen Druck auf die Löhne in den Industriestaaten ausgelöst. Es gab den Zentralbanken damit die Möglichkeit, viel Liquidität zu schaffen, ohne die Inflation zu treiben. Das ließ die Kurse und die Gewinne und die Immobilienpreise steigen. Alles lief gut, weil in China die Bauern in die Städte gekommen sind, um neue Sachen zu produzieren. Jetzt entkoppelt sich das: Es gibt Inflation in China, dazu kommen Produktionsengpässe. China treibt jetzt eher die Inflation, als sie zu bremsen. Da ist es klug, wenn die Zentralbank vor allem auf die Preisentwicklung schaut.
Die US-Notenbank flutet gerade die Märkte mit Geld. Offenbar fühlt sie sich nicht mehr an die Lehre gebunden, dass die Zentralbanken sich um den Geldwert zu kümmern haben und um nichts anderes.
Es hängt von den Bedingungen ab. Wenn es eine Krise des Vertrauens gibt, kann es zu Abwärtsspiralen kommen, die abgefangen werden können, indem die Zentralbank Liquidität schafft. Das bedeutet aber nicht, dass die Geldpolitik auch in Phasen, in denen es der Wirtschaft gut geht, den gleichen Einfluss hat.
Die Wirtschaftsexperten haben stets gesagt, ihr müsst die Bedingungen für die Unternehmen verbessern, dann wird es der Markt schon richten. Am Ende haben das sogar Sozialdemokraten geglaubt. Jetzt spricht viel dafür, dass der Aufschwung in den vergangenen Jahren eher der Konjunktur zu verdanken ist als der Agenda 2010.
Gewiss hat die Konjunktur geholfen. Aber das hat nur funktioniert, weil die Löhne über einige Jahre langsamer gestiegen sind als die Produktivität und die Unternehmen damit die Möglichkeit hatten, auch von der Konjunktur zu profitieren. Das hat sie veranlasst, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Beides bedingt einander.
Viele Arbeitnehmer in Deutschland sagen: Wir haben lange verzichtet, und die Gewinne sind gestiegen. Jetzt haben sie endlich Hoffnung auf deutliche Lohnsteigerungen.
Wenn die Wirtschaft bedroht ist, ist es eine Katastrophe, die Löhne anzuheben. Dadurch steigt auch nicht unbedingt die Kaufkraft. Das passiert nämlich nicht, wenn die Zahl der Jobs sinkt. Und sie sinkt, wenn die Löhne steigen. Wenn das nicht so wäre, müsste man ja nur den Mindestlohn auf 120 Prozent des Durchschnittseinkommens festsetzen, und alles wäre gut.
Ist das nicht zu einfach? Selbst die US-Regierung will Steuergutscheine ausgeben, um den Konsum anzuheizen.
Die Amerikaner haben immer mehr auf Nachfragesteuerung gesetzt als die Europäer. Sie konnten das tun, weil auch die Anbieter der Waren schnell reagieren können. In den USA entstehen schneller neue Firmen und Arbeitsplätze als in Deutschland. Hier ist die Wirtschaft so überreguliert, dass sie nur träge auf zusätzliche Nachfrage reagiert.
Wird die jetzige Krise in 15 oder 20 Jahren als Wendepunkt der Wirtschaftsentwicklung erscheinen?
Wahrscheinlich nicht. Denn unabhängig davon geschieht etwas, das sich jeder in Deutschland tagtäglich vor Augen halten sollte. Nämlich, dass die Wertschöpfungsketten zerpflückt werden. Es ist jetzt möglich, die Arbeiten da zu erledigen, wo sie am günstigsten sind. Wir stecken mitten in einer Revolution, die genauso tiefgreifende Folgen hat wie die industrielle Revolution. Und die ist viel bedeutender als das, was jetzt an den Märkten geschieht.
Wird Deutschland zu den Gewinnern dieser Revolution zählen?
Das hängt vor allem davon ab, wie wir mit der Umverteilung umgehen. Die Gesellschaft muss zusammengehalten werden - wenn es zu viele Verlierer gibt, wird das nicht gelingen. Wir müssen also umverteilen. Aber effizienter als bisher. Im Moment gibt es zu wenig Anreize, sich weiterzubilden oder eine Beschäftigung anzunehmen. Das ist enorm schädlich. Es wird daher sehr wichtig sein zu lernen, was die Skandinavier oder die Holländer gelernt haben. Nämlich, dass die Benachteiligten in erster Linie Chancen und nicht Geld brauchen.
Also brauchen wir nicht weniger Sozialstaat, sondern einen anderen.
Genau. Es geht nicht darum, den Sozialstaat zusammenzustreichen, sondern ihn effizient zu machen.
Gerade die vergangenen Wochen haben Zweifel daran geweckt, ob wirtschaftliche Prognosen etwas taugen. Viele haben die Lage bereits mit der Weltwirtschaftskrise der Dreißiger verglichen ...
... das ist Unsinn. Die Lage ist ganz anders und völlig neu. Gerade das macht es ja so schwierig. Es ist wie bei Krankheiten: Man hat eine in den Griff bekommen, und dann taucht eine neue auf.
Die alten Therapien taugen also nichts mehr. Ist der Monetarismus, der eher auf den Markt gesetzt hat, genauso überholt wie die vom Briten John Maynard Keynes und seinen Interpreten entwickelten Modelle zur Steuerung der Wirtschaft?
Ja. Total veraltet. Das sind Dinosaurier.
Früher hatten Ökonomen immer ein fest gefügtes Weltbild. Das scheint ihnen abhanden gekommen zu sein. Pragmatismus scheint die großen Ideen zu ersetzen.
Es ist ein Zeichen von unreifem Denken, wenn man versucht, für alle Lebenslagen eine Lösung vorzuschlagen. Nehmen Sie an, ich hätte eine Sauerstoffflasche und drücke Ihnen jetzt das Mundstück auf. Das wäre äußerst unangemessen. Aber wenn Sie ertrinken, sieht die Sache anders aus. Dann würden Sie sofort einsehen, dass das eine großartige Idee ist. Es hängt von den Umständen ab. In einer Krise müssen wir Dinge machen, die in anderen Zeiten völlig unakzeptabel sind.
Aber es geht doch nicht nur um die Umstände, sondern um Grundüberzeugungen, die über Jahrzehnte die Politik geprägt haben. Nämlich die Frage, ob Märkte am besten funktionieren, wenn der Staat sich so weit wie möglich heraushält oder nicht. Jetzt kommen Sie und sagen: kommt ganz darauf an.
Und alle drei Sichtweisen haben ihre Berechtigung. Es gibt Ärzte, die sagen, bei jeder Kleinigkeit Medikamente zu verschreiben, schadet am Ende mehr, als es nutzt. Das mag so sein. Andere sagen, ein Epileptiker, der sich am Boden wälzt, braucht sofort Hilfe. Stimmt auch. Dann komme ich und sage: Schauen wir doch erst mal, was los ist. Das stimmt auch.
Klingt ein bisschen orientierungslos.
Ich spüre tatsächlich einen Paradigmenwechsel in der Ökonomie. Nicht alles, was wir jetzt haben, wird uns überleben. Es ist einfach zu viel morsch. Die Ökonomen haben immer gesagt: Wir haben hier ein einfaches Modell, darin kann man alles abbilden. Das stimmt auch. Nur stimmen die Annahmen nicht, auf denen das Modell beruht. Denn Menschen handeln nicht unabhängig voneinander und auch nicht zu allen Zeiten nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten. Wir müssen vieles ganz neu durchdenken.