Alle kennen ihn hier. Die Rikschafahrer, die sich ihren Weg durch die schwüle, wimmelnde Enge von Dhaka bahnen. Die Frauen, die auf dem Bürgersteig über einem Holzkohlefeuer Reisgerichte kochen und für Pfennigbeträge verkaufen. Und die Kinder der besseren Leute in ihren Schuluniformen, die das Handy mit eingebauter Kamera zücken: "Das ist er. Der Doktor Yunus." Gruppenbild mit dem einzigen Weltstar von Bangladesch. Dann heißt es lächeln für den Friedensnobelpreisträger von 2006, immer nur lächeln. Der mittelgroße, ergraute Mann, der seine 68 Jahre gut weggesteckt hat, lächelt gern. Wenn er einem Kind über den Kopf streicht. Wenn ein paar wagemutige Teenager sich um ihn ballen für ein Erinnerungsfoto. Irgendwann rastet dann das optimistische Lächeln um seine haselnussbraunen Augen ein, wird Maske und Markenzeichen.
Sein Leibwächter, ein großer, aber nicht sehr austrainiert wirkender Mann mit Walkie-Talkie als einziger Waffe, hat seinen Doktor lieber im Auto oder zu Hause. Muhammad Yunus' Zuhause steht als einfacher Bungalow auf dem eingezäunten Gelände der Grameen Bank, deren Hauptgebäude sich turmhoch über die Hauptstadt von Bangladesch erhebt und von außen genau so aussieht, wie man sich die Zentrale einer Bank vorstellt.
Eines der ärmsten Länder
Doch es ist inzwischen weltbekannt, dass die Grameen Bank ein etwas anderes Geldinstitut ist. Dass sie und ihr Erfinder Yunus seit nunmehr 25 Jahren Kleinkredite an die Menschen in Bangladesch vergeben, die hier ganz besonders häufig sind: die Armen. Bangladesch ist nicht einmal halb so groß wie Deutschland, hat aber mit rund 140 Millionen die fast doppelte Bevölkerungszahl. Trotz eines durchschnittlichen Wirtschaftswachstums von jährlich über sechs Prozent gehört es zu den ärmsten - und korruptesten - Ländern der Welt.
Mit einem US-Diplom für Wirtschaftswissenschaften in der Tasche hat in den 70er Jahren der Sohn aus einem begüterten Elternhaus in den Dörfern Bangladeschs begonnen, durch Darlehen von höchstens dreistelliger Dollarhöhe die Ärmsten der Armen auf eigene Füße zu stellen, sie aus den Händen von Wucherern und Zwischenhändlern zu befreien. 1983 wurde dann die Grameen Bank offiziell etabliert. "Grameen" ist das bengalische Wort für Dorf. Über 97 Prozent aller Mikrokredite gingen bisher an Frauen, die im islamischen Bangladesch nicht nur Kinder zu kriegen, sondern auch den Haushalt zusammenzuhalten haben. Sein Modell hat inzwischen nicht nur in Bangladesch - dort macht ihm vor allem die NGO "BRAC" (Bangladesh Rural Advancement Committee - Komitee für Fortschritt auf dem Lande) Konkurrenz -, sondern auf der ganzen Welt Nachahmer gefunden. Und auch Kritiker, die sagen, die 20 Prozent Jahreszinsen, die Yunus verlangt, seien zu hoch. Dabei sind sie weit niedriger als die Wucherzinsen privater Geldverleiher, die locker bei monatlich 20 Prozent liegen. Der Nobelpreisträger ist davon überzeugt, dass nur Kredite mit für das Land realistischen Zinsen die Armen dazu bringen, wirklich Eigeninitiative zu entwickeln. "Gibst du ihnen Geld für null Zinsen, sehen sie es als Almosen an und nicht als Starthilfe."
Inzwischen hat Yunus das starre Mikrokredit-Programm diversifiziert. Heute steht Grameen für mehr als nur eine Bank der Armen. Grameen-Unternehmen stellen Textilien her, betreiben das größte Mobiltelefonnetz des Landes, bieten Versicherungen an, verkaufen Solaranlagen, entwickeln Software, wollen in jedem Dorf einen Internetanschluss einrichten, vergeben Sipendien, probieren neue Fisch- und Viehzuchtmodelle aus und produzieren seit Neuestem zusammen mit dem französischen Multi Danone eine Art Volksjoghurt. So ist Grameen zum größten Unternehmen von Bangladesch mit 25.000 Beschäftigten geworden.
Der Glaube an das Gute
Und der Dr. Yunus zum Vorstandsvorsitzenden. Oder? "Na ja, irgendwie schon", sagt Yunus, "nur dass meine Aufgabe nicht die Profitmaximierung ist." Auch wenn die Geschäfte gut gehen, zahle Grameen keine Dividende. Jeder Überschuss werde in neue Aktivitäten investiert mit dem Ziel, die Situation der Armen zu verbessern. "Social Business" nennt Yunus sein Geschäftsmodell, Sozialunternehmen. Ein marktwirtschaftlich orientierter Konzern. Yunus sitzt an seinem Schreibtisch im vierten Stock der Hochhauses. Offenes, kragenloses Hemd. Sandalen an den Füßen. Keine zeitgenössische Kunst an den Wänden wie sonst bei Vorständen üblich. An der Decke Neonleuchten und Ventilatoren, die mit mäßigem Erfolg gegen die feuchte Schwüle ankämpfen.
Yunus glaubt an die positive Veränderbarkeit dieser Welt und an das Gute im Menschen. Selbst wenn Letzterer der Spezies Manager angehört. "Der Fehler des klassischen Kapitalismus ist, den Menschen nur eindimensional zu sehen. Macht er Profit, oder kann man mit ihm Profit machen?" Das lasse die Facetten außer Acht, die jenseits des Eigennutzes als Triebfeder des Handelns den Mensch erst zum Menschen machten. Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein. Fantasie.
Und schon sind wir bei Danone, Grameens Vorzeige-Joint-Venture mit einem Multi zur Weltverbesserung, sprich in diesem Fall gesünderen Ernährung der unterernährten, durchfallgeplagten Kinder von Bangladesch. Danone hat angefangen, übers ganze Land verteilt, in kleinen Fabriken Joghurt zu produzieren, angereichert mit Vitaminen und Mineralien. Zu einem Preis, den sich auch arme Familien leisten können, umgerechnet etwa sechs Cent. Falls das Geschäft läuft, kriegt Danone seine Investitionen zurück, mehr aber auch nicht. Und die Erste Welt hat der Dritten gegenüber ihr soziales Gewissen beruhigt.
Das hat Schule gemacht. Yunus: "Aus Deutschland will zum Beispiel eine Schuhfabrik erschwingliche Schuhe herstellen. Slogan: Kein Mensch auf dieser Welt soll barfuß gehen müssen. Und ein Hersteller will imprägnierte Moskitonetze anbieten. Wenn sie billig genug sind, können auch die Armen sie kaufen. Das wäre ein wichtiger Schritt zur Malariabekämpfung."
Der Nobelpreis habe ihm manche Türen geöffnet. "Wenn ich heute bei einem Staatschef um ein Treffen nachsuche, dann kriege ich es auch früher oder später." Ist der vertraute Umgang mit den Clintons, den Bonos, den Kofi Annans und den Brad Pitts dieser Welt dem guten Menschen von Dhaka zu Kopf gestiegen? Ob dieser Frage schaut Yunus ein wenig argwöhnisch. Die politische Kaste in Bangladesch wirft ihm trotz aller offiziellen Wertschätzung hemmungslose elbstdarstellung vor. "Sehen Sie, ich arbeite weiterhin 14 Stunden am Tag und komme mit fünf Stunden Schlaf aus." Wir gehen die paar Schritte hinüber zum Bungalow der Familie Yunus hinter dem Turm der Bank. Für ein paar Augenblicke wird es stockdunkel zwischen den Palmen. Stromausfall. Doch dann springt auch schon ein Generator an. "Der eigene Generator ist in unserem Land unverzichtbar", sagt Yunus mit Achselzucken.
Das Haus ist keine Hütte. Aber es ist alles andere als ein Palast. Eine Haushälterin mit Kopftuch öffnet und verschwindet dann diskret im Küchentrakt. Sie ist die einzige Bedienstete. An der Einrichtung hat garantiert kein Innenarchitekt mitgewirkt. Nur die Fotos an der Wand, eins mit der spanischen Königsfamilie, eins mit den Clintons, zeigen, dass hier nicht Herr Jedermann zu Hause ist.
"Wie man arme Nationen reich macht"
Im Wohnzimmer steht der Computer, Yunus' Nabelschnur zur Welt. Hier verfasst er seine Reden und wird auch diesen Abend noch lange davor sitzen. Morgen fliegt er nach Madrid, ein Vortrag an der Uni, und dann geht es weiter nach Teheran. Auch die Mullahs hören ihm gern zu. "Ich selbst bin Moslem, aber eher ein kultureller." Hochzeiten, Begräbnisse nach islamischem Ritus, Freitag als Feiertag, das halte er ein. Aber er bete nicht fünfmal am Tag. Und in der richtigen Gesellschaft trinke er auch schon mal ein Glas Wein. Auf dem Bücherregal liegen griffbereit Richard Dawkins "Der Gotteswahn" und ein Buch mit dem vielversprechenden Titel: "Wie man arme Nationen reich macht".
Seine Frau Afrozi ist gerade unterwegs, und Monica, die ältere seiner beiden Töchter, ist für immer aus dem Haus. Sie ist Sopranistin in den USA und dabei, sich einen eigenen Namen zu machen. Papa zeigt uns stolz eine Hochglanzbroschüre. Monica in Mozarts "Don Giovanni". Monica in Verdis "Rigoletto", Monica in Massenets "Manon". Und nur ganz am Rand wird erwähnt, dass es sich bei der 25-Jährigen um die Tochter des preisgekrönten Muhammad Yunus handelt.
Der Friedensnobelpreisträger geht in die Küche. Er kehrt mit drei Gläsern Lassi, der indischen Sauermilch, und seiner zweiten Tochter Deena zurück. Die 21-Jährige trägt einen Glitzerstein im linken Nasenflügel und ein Tattoo auf dem rechten Oberarm. Deena studiert Ökonomie an der Universität von Dhaka und lernt dort, wie Yunus leicht ironisch anmerkt, genau die Wirtschaftstheorien, mit denen er bei der Grameen Bank gescheitert wäre. "Natürlich können nicht alle Inder, alle Chinesen, alle Bangladescher leben wie ihr in Deutschland, ein Auto wie ihr fahren oder gar einen dieser Benzinfresser, dieser SUV, wie in den USA. Das würde die Erde nicht aushalten." Aber ein Bett unter einem Dach, sauberes Trinkwasser, zwei Mahlzeiten am Tag, Strom, medizinische Versorgung und eine Schule in der Nähe seien für jeden Menschen machbar.
Der Professor begleitet uns zum Eingangstor. Draußen liegt stickig und laut die Millionenstadt Dhaka, in der mehr als die Hälfte der Menschen in wüsten Slums leben. "Um die Armut auszurotten, müsst auch ihr in der Ersten Welt zurückstecken, ihr könnt die Ressourcen nicht weiterhin so verschleudern wie bisher. Ihr könnt es unseretwegen nicht tun, und ihr könnt es der kommenden Generationen wegen nicht tun", sagt Yunus. Auf dem Parkplatz am Tor steht im schwachen Notlicht schimmernd ein wuchtiger Geländewagen. Er gehört Muhammad Yunus. Wie denn, Doktor, Wasser predigen und Wein trinken? Für einen Sekundenbruchteil stutzt Yunus. Er lacht kurz auf und schüttelt dann lächelnd den Kopf: "Bei unseren Straßen und der Art, wie in Bangladesch Auto gefahren wird, glauben Sie mir, da braucht man so was!"